Eine Erklärung, die Nuklear-Kapazität zu verdreifachen, gibt auf der Weltklimakonferenz offenbar neuen Schwung für die Kernenergie. Doch ist mehr Atomkraft nur eine Ablenkung oder eine echte Lösung für die Klimakrise?
Anzeige
"Die Nuklearenergie ist zurück", erklärte der französische Präsident Emmanuel Macron auf dem UN-Klimagipfel in Dubai letzte Woche und beschwor damit ihre Wiederbelebung nach Jahrzehnten des Rückgangs.
Frankreich, ein Vorreiter in der Kernenergie, ist eines von mehr als 20 Ländern - darunter die USA, das Vereinigte Königreich, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan-, die bei der Weltklimakonferenz COP28 eine Absichtserklärung unterzeichnet haben, die Kapazität der Kernenergie bis 2050 zu verdreifachen.
Obwohl sie keine "Erneuerbare" ist, gilt Kernenergie als eine saubere Energiequelle, da sie im Vergleich zu Öl, Kohle und Gas relativ geringe Emissionen von Treibhausgasemissionen produziert.
Doch das Problem der Entsorgung von nuklearem Abfall, der für Zehntausende von Jahren radioaktiv bleiben kann, macht Kernkraft zu einer umstrittenen Energiequelle. Und die potentielle Gefahr für einen Nuklearunfall wie die Reaktorkatastrophen in Tschernobyl oder Fukushima macht es nicht einfacher.
Weltweit gibt es mehr als 430 Reaktoren, die zusammen etwa 10% des globalen Stroms erzeugen. 57 weitere Anlagen sind derzeit im Bau. Mit der neuen Absichtserklärung soll diese Zahl erhöht werden - zu einer Zeit, in der Länder wie Deutschland die Kernenergie abbauen.
Was genau beinhaltet die COP28-Erklärung zu Ausbau der Kernenergie?
Die Erklärung besagt, dass eine Wiederbelebung der Kernenergie entscheidend sei, um Null-Emissionen zu erreichen, das Ziel zu erreichen, die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen, und um eine stabile, kohlenstoffarme Energieversorgung sicherzustellen, während die Welt auf erneuerbare Energien umstellt.
Die unterzeichnenden Länder haben erklärt, dass sie zusammenarbeiten werden, um die Kapazität der Kernenergie bis 2050 um das Dreifache im Vergleich zu 2020 zu erhöhen. Dafür wollen sie die Lebensdauer bestehender Anlagen verlängern und neue Reaktoren, einschließlich neuer kleiner modularer Reaktoren (SMRs), bauen. Diese sollen billiger, schneller zu bauen und sicherer als herkömmliche Reaktoren sein.
Hilft Kernenergie gegen den Klimawandel?
07:39
Das würde einen Sprung von 400 Gigawatt (GW) jährlicher Kernkapazität auf fast 1200 GW bedeuten und wahrscheinlich Hunderte neuer Anlagen, so William D. Magwood. Er ist Generaldirektor der in Paris ansässigen zwischenstaatlichen Agentur für Kernenergie (NEA), deren Analyse zur Rolle der Kernenergie für Emissionsreduzierung in der Erklärung zitiert wird.
Kann Kernkraft realistisch in 27 Jahren verdreifacht werden?
Kritiker sagen dass Kernenergie zu teuer und zu langsam sei, um einen schnellen Beitrag zur Emissionsreduzierung zu leisten. Wegen hoher Anfangskosten, Bauzeiten von mindestens einem Jahrzehnt pro Anlage und vielen Verzögerungen bei Nuklearprojekten sei eine Verdreifachung der Kapazität unrealistisch.
Mycle Schneider, unabhängiger internationaler Energieanalyst, der gemeinsamen mit weiteren Experten den jährlichen Internationalen Statusreport der Nuklearindustrieveröffentlicht, hält das Ausbauziel aus "industrieller Sicht für schlicht unmöglich". Er weist darauf hin, dass die Stromerzeugung aus Kernkraft weltweit im Schnitt um 4 Prozent abnimmt.
Schneider zufolge müsste die Branche "zusätzlich zu den derzeit im Bau befindlichen Reaktoren weitere 270 Reaktoren oder 230 GW bauen und in Betrieb nehmen", nur um die bis 2050 geplanten Schließungen Schritt zu halten.
"Es gibt keine Anzeichen dafür, dass dies möglich ist, geschweige denn, dass die derzeitige Betriebskapazität bis dahin verdreifacht werden kann", so Schneider.
Anzeige
Neue SMR Reaktoren weltweit noch im Anfangsstadium
Auch wenn Befürworter sagen, dass die SMRs der entscheidende Umschwung für die Kernenergie bedeuten könnten, und Investoren wie Microsoft-Mitbegründer Bill Gates sie finanzieren wollen, die neuen Anlagen befinden noch im Anfangsstadium. Bisher sind weltweit nur drei SMRs Einsatz.
Dennoch sagt Magwood, der frühere Chef für Kernenergie im US-Energieministerium, dass die Ziele erreicht werden können, wenn Regierungen und Industrie engagiert genug seien. "Wenn wir den Klimawandel wirklich ernst nehmen, wird es ziemlich einfach, die Kapazität zu verdreifachen."
Das schnelle Tempo von AKW-Neubauten in den 1970er und 1980er Jahren in den USA, Frankreich, Schweden und anderen Ländern habe gezeigt, dass es "machbar und realistisch" sei. Frankreich bezieht heute rund 70% seines Stroms aus der Kernenergie.
Ist die Kernenergie eine Ablenkung von erneuerbaren Energien?
Laut dem im November veröffentlichten UN-Emissionslückenbericht müssen die vorhergesagten globalen Emissionen bis 2030 um 42% sinken, um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen und die schlimmsten Auswirkungen des Klimawandels vermeiden zu können.
Mehr als 100 Länder haben jetzt auf der Weltklimakonferenz ihre Absicht erklärt, die Kapazität für erneuerbare Energien bis 2030 zu verdreifachen. Nach Angaben der in Paris ansässigen zwischenstaatlichen Internationalen Energieagentur(IEA) muss das jährliche Investitionsvolumen für saubere Energie, einschließlich Kernenergie, bis 2030 auf rund vier Billionen US-Dollar pro Jahr verdreifacht werden, um bis 2050 Netto-Null-Emissionen zu erreichen.
Atomkraft in Deutschland - eine Hassliebe
Erst wurde sie in Deutschland gefeiert, dann verdammt und schließlich verbannt: Die Atomenergie feiert dennoch ein kurzfristiges Comeback - mangels Gas aus Russland. Ein Blick auf ihre wechselhafte Geschichte.
Bild: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance
Ein "Atom-Ei" als erster Reaktor
Die erste nukleare Anlage Deutschlands geht Ende Oktober 1957 in Garching bei München in Betrieb. Das wegen seiner Form benannte "Atom-Ei", das zur Technischen Universität München gehört, wird zum Wahrzeichen der Kernforschung und des Neubeginns nach dem Zweiten Weltkrieg. Im Jahr 2000 wird der Forschungsreaktor abgeschaltet. Er genügt nicht mehr den wissenschaftlichen Anforderungen.
Bild: Heinz-Jürgen Göttert/dpa/picture-alliance
Start der zivilen Nutzung der Atomenergie
Drei Jahre nach Inbetriebnahme des "Atom-Eis" startet die zivile Nutzung der Kernenergie: Das erste Atomkraftwerk erzeugt in Kahl am Main ab 1961 Elektrizität. Es folgen leistungsstärkere Kraftwerke wie Gundremmingen (Foto), dass 1966 den Betrieb aufnimmt. Die friedliche Nutzung der Atomenergie gilt als sicherer Beitrag zur Energiegewinnung - noch.
Bild: Michael Bihlmayer/CHROMORANGE/picture alliance
Beginn der Anti-Atomkraft-Bewegung
1973 verleiht der Schock über die Ölkrise der Atompolitik weiteren Auftrieb. Doch der Zeitgeist wandelt sich. In der Bevölkerung werden die Zweifel an der angeblich sauberen Energie immer lauter. Es wächst der Widerstand. Bei Protesten gegen das schleswig-holsteinische AKW Brokdorf liefern sich von 1976 an Demonstranten und Polizisten mehrfach bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen (Foto 1981).
Bild: Klaus Rose/imago images
Symbol des Atomkraft-Widerstands
Hinter dem Slogan "Atomkraft? Nein Danke" mit der lachenden Sonne vor gelbem Hintergrund können sich alle deutschen Umweltschützer versammeln. Ab Mitte der 70er Jahre ist das Logo bei den Anti-Atom-Demonstrationen omnipräsent. Die Idee dazu stammt aus Dänemark, von einer Studentin der Wirtschaftswissenschaften. Der Slogan wird zum weltweiten Export-Schlager.
Bild: Tim Brakemeier/dpa/picture-alliance
Der Schock nach Harrisburg und Tschernobyl
Die Ängste vor der nukleare Bedrohung werden grausame Realität: Am 28. März 1979 ereignet sich im AKW Three Mile Island bei Harrisburg in den USA ein schwerer Atomunfall. Sieben Jahre später, am 26. April 1986, kommt es zur weltweit schwersten Havarie in Tschernobyl in der Ukraine (Foto). Eine radioaktive Wolke zieht über Europa. Tschernobyl wird zum Symbol für die atomare Gefahr.
Bild: Zufarov/AFP/Getty Images
Geburt einer neuen Partei
1980 entsteht in Westdeutschland eine neue Partei: die Grünen. Gegründet wird sie von Linken, Friedensbewegten, Umweltschützern und Atomkraft-Gegnern. Den Einzug in den Bundestag feiern die Grünen Gert Bastian, Petra Kelly, Otto Schily und Marieluise Beck-Oberdorf (von links) Ende März 1983 mit einem Marsch zum Parlament in Bonn. Der Kampf gegen die Atomkraft ist einer ihrer Schwerpunkte.
Bild: AP/picture alliance
Wackersdorf: Tragödie, aber auch Triumph
Im bayerischen Wackersdorf soll die zentrale Wiederaufarbeitungsanlage für abgebrannte Kernreaktor-Brennstäbe entstehen. Bei Krawallen im Frühling 1986 kommen mehrere Demonstranten und ein Beamter ums Leben, hunderte Menschen werden verletzt. Ende Mai 1989 wird der Bau der Anlage eingestellt. Ein erster Triumph für die deutsche Umweltbewegung.
Bild: Istvan Bajzat/dpa/picture alliance
Protest gegen Endlager
Das niedersächsische Gorleben wird zum Symbol für den Kampf um die Atommüllentsorgung. Hier soll der radioaktive Müll der nächsten Jahrzehnte gelagert werden, bis es ein Endlager gibt. Am 24. April 1995 rollt der erste Transport an. Umweltschützer organisieren Straßenblockaden, Aktivisten fesseln sich an die Schienen. Ende November 2011 erreicht der letzte Atommüll-Behälter Gorleben.
Bild: BREUEL-BILD/picture alliance
Rot-grün plant den Ausstieg
Die Mitte-Links-Koalition aus Sozialdemokraten (SPD) und Grünen unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (r) setzte 2001 den Ausstieg aus der Kernenergie durch. Alle 19 deutschen Kernkraftwerke sollten bis 2021 abgeschaltet werden. Im Jahr 2010 hob die Nachfolge-Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel die Vereinbarung auf und beschloss, die Laufzeiten der Kernkraftwerke zu verlängern.
Bild: picture alliance
Wendepunkt Fukushima
Jahrzehntelang protestieren Umweltschützer in Deutschland gegen Atommeiler. Doch für nachhaltige Konsequenzen wird nach Harrisburg und Tschernobyl erst eine weitere Nuklearkatastrophe sorgen: Der GAU (größter anzunehmender Unfall) im japanischen Kernkraftwerk Fukushima am 11. März 2011. Viel mehr als in Japan selbst hat die Nuklear-Katastrophe Konsequenzen für die deutsche Atompolitik.
Bild: NTV/NNN/AP/dapd/picture alliance
Merkel treibt Energiewende voran
Einen Monat nach Fukushima verkündet Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kurzfristig und für einige Beobachter überraschend die Energiewende. Bis Ende 2022 sollen alle deutschen Kernkraftwerke stillgelegt sein. Am 30. Juli 2011 bewilligt der Bundestag in Berlin in einer namentlichen Abstimmung (Foto) das neue Energiegesetz.
Bild: Michael Kappeler /dpa/picture alliance
Atommeiler wird stillgelegt
Viele Jahre lang gab es um das Kernkraftwerk Brokdorf besonders heftige Auseinandersetzungen. Jetzt - nach knapp 35 Jahren Betriebszeit - wird es Ende 2021 abgeschaltet. Der Druckwasserreaktor mit einer Leistung von rund 1400 Megawatt lieferte seit 1986 Strom. Ein Mitarbeiter prüft nochmal das Kontroll- und Steuerungspult im Leitstand des Kernkraftwerks.
Bild: Christian Charisius/dpa/picture alliance
Jubel über das Ende der Kernenergie
Die Atomkraftgegner sind am Ziel und feiern den Ausstieg mit Wunderkerzen. Sie stehen vor dem Kernkraftwerk Grohnde. Nach rund 37 Jahren Laufzeit ist die niedersächsische Anlage endgültig vom Netz gegangen.
Bild: Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance
Trügerische Idylle
Dort, wo sich früher militante Aktivisten mit Polizisten prügelten, grasen heute friedlich Schafe. Das Gelände des stillgelegten AKW Brokdorf wirkt wie eine Idylle. War es das nun mit der Atomkraft? Nein. Denn Deutschland will sich aus der Energieabhängigkeit Russlands befreien und nicht mehr Präsident Putin ausgeliefert sein, der den Gashahn nach Belieben auf- oder zudreht.
Bild: Georg Wendt/dpa/picture alliance
Ausstieg vom Ausstieg spaltet die Ampelkoalition
Deshalb diskutiert die Bundesregierung lange über eine Verlängerung der Laufzeiten der drei verbliebenen Kernkraftwerke. Doch es gibt Streit. Finanzminister Christian Lindner (FDP) befürwortet eine Kernenergie-Renaissance. Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck (Grüne) will nur zwei AKW bereithalten und einen Weiterbetrieb bis Mitte April nur bei Bedarf ermöglichen.
Bild: Michael Kappeler/picture alliance/dpa
Ein Machtwort des Kanzlers
Der Streit zwischen FDP und Grünen wird zur Zerreißprobe für die Bundesregierung. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) macht erstmals seit Antritt der Ampel-Koalition von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch. Seine Entscheidung: Die Atomkraftwerke sollen bis maximal Mitte April kommenden Jahres weiterlaufen können. Über eine entsprechende Gesetzesänderung wird der Bundestag entscheiden.
Bild: Markus Schreiber/AP Photo/picture alliance
16 Bilder1 | 16
Aber angesichts der Dringlichkeit, Treibhausgasemissionen aus fossilen Brennstoffen zu reduzieren, kritisieren Klimaaktivisten der Gruppe 350.org, die Ausweitung der Kernenergie anstelle von billigeren und schnellere Klimaschutzmaßnahmen. "Wir haben bereits billigere, sicherere, demokratischere und schnellere Lösungen für die Klimakrise, und das sind erneuerbare Energien und Energieeffizienz.", sagt Masayoshi Iyoda von 350.org Japan. Er nennt Kernenergie eine "gefährliche Ablenkung".
Gemeinsames Ziel: Emissionen schnell senken
Aidan Rhodes vom Energy Futures Lab der Imperial College London, sieht jedoch im Bau neuer Kernenergieanlagen keine Konkurrenz um Finanzierung mit den erneuerbaren Energien.
"Erneuerbare Energien wie Wind und Sonne sind relativ schnell aufzubauen und bieten schnelle Renditen. Wenn Sie heute ein Kernkraftwerk bauen wollen, wird es wahrscheinlich 10 bis 15 Jahre dauern, bevor man überhaupt Strom bekommt, und das verändert die finanzielle Entscheidung für Investoren", so Rhodes.
Das deutsche Umweltbundesamt (UBA) hat diese Woche eine Studie veröffentlichte, in der es heißt, eine Verdreifachung der Kernenergie sei "nicht erforderlich, um die Klimaziele des Pariser Abkommens zu erreichen".
Doch Rhodes findet, dass es keine grundsätzliche Entscheidung zwischen den Technologien geben müsse.
"All diese Technologien haben ihren Platz im System", sagt Rhodes. "Sie haben alle Nachteile. Sie haben alle Vorteile. Wenn wir eine davon ausschließen würden, verlangsamen wir den Übergang. Und das ist die eigentliche Gefahr."