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Gesellschaft

Ist Griechenland bereit für ein offenes Europa?

2. August 2019

Die neue Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis befindet sich im Zwiespalt. Soll sie den nationalistischen Strömungen nachgeben oder eine kulturelle Öffnung forcieren? Die Gräben sind tief.

Antijüdische Graffiti Antisemitismus in Griechenland
Antisemitismus in Griechenland - Graffiti am Holocaust-Denkmal Bild: AFP/Getty Images/L. Gouliamaki

Vor kurzem besuchte der neue griechische Minister für landwirtschaftliche Entwicklung, Makis Voridis, das Jüdische Museum in Athen. Auf den ersten Blick scheint das nicht ungewöhnlich, wäre da nicht seine politische Vergangenheit. Immerhin hatte Voridis in einer ultrarechten Zeitung gefordert, man müsse das "Tagebuch der Anne Frank" auf historische Fakten überprüfen. Gleichzeitig schlug er vor, dem antisemitischen Pamphlet "Protokolle der Weisen von Zion" mehr historische Beachtung zu schenken. Regelmäßig war er in Kontakt mit Holocaust-Leugnern. In einem Artikel in der israelischen Haaretz von März 2012 bezichtigte ihn ein ehemaliger Mitschüler, eine nationalistische und faschistische Vereinigung gegründet und geführt zu haben. Die Schüler sollen die Wände mit Hakenkreuzen besprüht, und sich gegenseitig mit dem Hitlergruß salutiert haben.

Auf dem Freiheitsplatz entsteht derzeit ein Gedenkpark für die rund 50.000 jüdischen Holocaustopfer aus Thessaloniki.Bild: DW/F. Schmitz

Später, als Jura-Student, hatte er die Führung einer rechts-nationalen Studentengruppe übernommen, die sich für die Befreiung der inhaftierten Soldaten der griechischen Junta, sowie für die Rückkehr des Königs einsetzte. Sein Vorgänger war Nikolaos Michaloliakos, der heutige Anführer der faschistischen Partei "Goldene Morgenröte". Bisher spielte Voridis das Unschuldslamm. Daher überraschten seine deutlichen Worte: "Mein Besuch im Jüdischen Museum Griechenlands signalisiert auch mein Anliegen, beim jüdischen Volk um Entschuldigung zu bitten, da ich in der Vergangenheit politische und persönliche Verbindungen zu Holocaust-Leugnern unterhielt."

Parteipolitik versus Wirtschaftsinteressen

Olga Drossou, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Thessaloniki, steht diesem Sinneswandel kritisch gegenüber. Dass ein Mann mit dieser Vergangenheit sich auf einmal für den "Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Holocaustleugnung" einsetzen würde, wie derselbige bei einer Stellungnahme behauptete, hält sie für eine politische Finte. "In den letzten Jahren ist die antisemitische Rhetorik im öffentlichen Diskurs sichtlich zurückgegangen. Eine Begründung dafür liegt in den besseren Beziehungen zu Israel, vor allem wirtschaftlich."

In der Tat arbeiten Jerusalem und Athen seit ein paar Jahren enger zusammen. Regelmäßig kam es in der Amtszeit von Alexis Tsipras zu trilateralen Treffen mit dem israelischen Premier Benjamin Netanjahu und dem zyprischen Amstkollegen Nikos Anastasiadis. Im Rahmen dessen wurden, zum Unmut der Türkei, Pläne für den Abbau der Erdgasvorkommen vor der zyprischen Küste geschmiedet. Das änderte den traditionell antiisraelischen Kurs Griechenlands: "Die Regierung weiß, dass Israel zwar viel Wert legt auf gute Beziehungen zu Athen, doch sehr aufmerksam ist, wenn es um Antisemitismus geht" , erklärt Drossou.

Olga Drossou, Leiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Thessaloniki, hält den Antisemitismus im Land für ein strukturelles ProblemBild: DW/F. Schmitz

So reagierte Jerusalem prompt auf Voridis‘ Ernennung zum Minister. Man werde nicht mit diesem Mann zusammenarbeiten, zitierte die israelische Presse Regierungsvertreter. Für den griechischen Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis ein Drahtseilakt zwischen Außenpolitik und parteiinternen Machtkämpfen. Olga Drossou hält Mitsotakis nicht für einen Rechtsradikalen. "Er ist ein neo-liberaler Politiker, der sich sehr viel vorgenommen hat. Doch er muss die Kräfteverhältnisse in seiner Partei austarieren." Der rechte Rand innerhalb der Neo Demokratia sei mächtig und Mitsotakis habe viele Zugeständnisse in diese Richtung machen müssen, um die Partei zusammenzuhalten. Doch um international agieren zu können, müsse er sie auf einen Mittelweg führen.

"Es wird einen Kulturkampf geben"

Und da ist nicht nur Voridis, sondern auch Antonis Georgiadis, stellvertretender Parteivorsitzender der Nea Demokratia und neuer Minister für Wachstum und Investitionen. In Griechenland gilt er als Befürworter der Sparpolitik. Gleichzeitig kennt man ihn für seine Verkaufssendungen im Fernsehen, in denen er selbstgeschriebene Bücher an den Mann bringt. In den meisten Fällen handelt es sich um konspirative Literatur. Eines seiner Werke trägt den Titel: "Juden - Die ganze Wahrheit".

Juden in Thessaloniki

02:48

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"Antisemtismus zieht sich in Griechenland durch alle Klassen", erklärt Olga Drossou. Auch Abgeordnete von Tsipras‘ Syriza oder der kommunistischen KKE hätten sich dementsprechend geäußert. Noch sei nicht absehbar, inwiefern der neue Ministerpräsident dazu in der Lage sein wird, auch innerparteilich einen offenen und pro-europäischen Kurs durchzusetzen. Für Drossou steht fest: "Es wird einen Kulturkampf geben." Es gehe darum, auf gesellschaftlicher Ebene eine Aufklärungskultur zu schaffen und mit alten Mythen und Tabus zu brechen, die von den konservativen Mächten weiterhin vertreten würden.

Realität bedeutet Vielfalt

Fest steht: Europa hat Griechenland in seinen Grundfesten erschüttert. Gerade hinsichtlich der Menschenrechte hat sich in den letzten Jahren viel getan. Schritte wie die Anerkennung von verschiedenen sexuellen Identitäten oder die eingetragene Partnerschaft sind kleine Revolutionen in einem Land, in dem der christlich-orthodoxe Glaube tragende Säule der offiziellen Staatsräson ist.

"Als ich in den 1980er und 90er Jahren in Thessaloniki aufwuchs, herrschte das Griechisch-Christlich-Orthodoxe deutlich vor", erinnert sich Leon Saltiel, Historiker und griechischer Jude. "Heute leben hier viele Menschen aus anderen Ländern. Viele der Kinder von Einwanderern aus Albanien, Bulgarien, Rumänien oder der Ukraine studieren an unseren Universitäten. Sie sprechen Griechisch und fühlen sich als Griechen. Auf diese Weise verändert sich auch die Sichtweise der Menschen hier."

Leon Saltiel ist Historiker und griechischer Jude. Er wünscht sich eine breitere Anerkennung kultureller Vielfalt in Griechenland. Bild: Privat

Über tausende von Jahren lebten, vor allem in Nord-Griechenland, zahlreiche Kulturen und Religionen miteinander. Zu Zeiten der Nationalstaatbewegung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, ging es schließlich darum, alles "Nicht-Griechische” aus dem Land zu verbannen. Die slawische Bevölkerung verlor sich in den Balkankriegen gen Norden, die Osmanen mussten in die neugegründete Türkei umsiedeln und die Juden fielen dem Holocaust zum Opfer. Doch die Idee einer Nation, die sich selbst beschränkt auf Hellenismus und die christliche Orthodoxie, ist in einem Mitgliedsland der Europäischen Union wohl kaum haltbar.

Inzwischen öffnet sich Thessaloniki - stellvertretend für das ganze Land - der jüdischen Vergangenheit. Der Tourismus aus Israel boomt, bringt Geld in die Stadt und haucht der verdrängten Geschichte neues Leben ein. Für Saltiel aber ist dies nur ein Anfang. Thessaloniki habe viele Identitäten. Die Stadt sei über Tausende von Jahren ein wirtschaftlicher und kultureller Knotenpunkt gewesen. "Es ist gut und wichtig, dass die Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität der Stadt in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen hat. Aber das muss auch mit den vielen anderen historischen Identitäten geschehen, um die Stadt historisch in ihrer Vielfalt zu begreifen."

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