1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
PolitikEuropa

Istanbul-Konvention: Ankaras homophobe Begründung

Daniel Derya Bellut
22. März 2021

Erst trat der türkische Präsident Erdogan aus der Istanbul-Konvention aus. Nun folgte eine Begründung aus dem Präsidentenpalast: Man wolle "die Normalisierung von Homosexualität" unterbinden.

Proteste am Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen im November 2020 in Ankara
Türkinnen protestieren am Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen im November 2020 in Ankara Bild: Depo Photos/abaca/picture alliance/dpa

Der Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention kam überraschend und wurde international scharf kritisiert. Die Konvention des Europarates aus dem Jahr 2011 soll Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt durch verbindliche Rechtsnormen unterbinden.

Nachträglich lieferte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan nun doch eine Erklärung für den überraschenden Austritt: Das Abkommen werde von einer Gruppe von Menschen dazu benutzt, "um Homosexualität zu normalisieren". Dies sei ein Verstoß gegen die sozialen und familiären Werte der Türkei, begründete der Kommunikationsdirektor des Präsidentenpalastes, Fahrettin Altun, den Schritt.

Man folge dabei dem Beispiel anderer Länder, heißt es in der Erklärung. "Sechs EU-Mitgliedsstaaten (Bulgarien, Ungarn, Tschechien, Lettland, Litauen und die Slowakei) haben die Konvention nicht ratifiziert. Polen hat sogar bereits Schritte eingeleitet, um von der Konvention zurückzutreten, weil die Istanbul-Konvention ein Versuch der LGBT-Gemeinschaft (Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transpersonen) ist, der gesamten Gesellschaft ihre Gender-Vorstellungen aufzuzwingen."

Fahrettin Altun, Kommunikationsdirektor des Präsidentenpalasts: Die Konvention ist "ein Verstoß gegen die sozialen und familiären Werte der Türkei"Bild: picture-alliance/AA/E. Elaldi

Biden: "Ich bin zutiefst enttäuscht"

Der türkische Präsident Erdogan hatte am 20. März per Dekret den Austritt aus der Istanbul-Konvention verkündet - international wurde dieser Schritt scharf kritisiert. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte, dass die Türkei eine gefährliche Botschaft an die Welt sende. Für Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bietet die Konvention Frauen einen wichtigen Rechtsrahmen zum Schutz vor Gewalt. Und US-Präsident Joe Biden erklärte: "Ich bin zutiefst enttäuscht."

In der Türkei verurteilten viele Frauenrechtsorganisationen Erdogans Entscheidung als "ungültig" und "rechtswidrig". Die Vorsitzende der Föderation der Frauenvereinigungen der Türkei, Canan Güllü, sagte der DW, dass man Frauen das Recht auf Leben und ein Recht auf eine gewaltfreie Umgebung weggenommen habe.

"Frauen wurden wie ein Müllsack mitten auf die Straße gestellt. Jeder, der kommt, kann dagegen treten. Der Tritt kann sogar eine Kugel aus einer Schusswaffe bedeuten. Wir Frauen werden das nicht vergessen."

Canan Güllü - Vorsitzende der Frauenverbände in der TürkeiBild: DW/H. Köylü

Türkische Juristen wiesen zudem darauf hin, dass es schwierig sei, aus einem internationalen Abkommen auszutreten. Ein Alleingang, wie ihn Erdogan vornehme, sei äußerst unüblich. Die türkische Verfassungsrechtlerin Serap Yazici erklärte, dass es für die Kündigung eines internationalen Abkommens klare Regeln gebe.

So sei es unverzichtbar, dass erst das türkische Parlament mit einem Gesetz die Beendigung der Istanbul-Konvention einleite. Danach trete ein Gesetz in Kraft, welches der Exekutive einräumen würde, ein internationales Abkommen zu kündigen. Auch könnten Frauen individuell Klage einreichen, um den Austritt aus der Konvention rückgängig zu machen. "Ich lade alle Frauen dazu ein, ein Nichtigkeitsverfahren einzureichen", so die Verfassungsrechtlerin.

Frauenrechtsorganisation reicht Klage ein

Yazicis Aufruf wurde befolgt. Die erste konkrete Klage gegen den Austritt kam vom Verein für Frauen und Kinder, der den Schritt des türkischen Präsidenten als "ungültig" bezeichnete. In dem Nichtigkeitsverfahren, welches beim Staatsrat eingereicht wurde, heißt es, die Türkei habe ein internationales Abkommen abgeschlossen, "das per Gesetz in Kraft getreten ist und daher nicht durch eine präsidentielle Entscheidung rückgängig gemacht werden kann".

Dass der türkische Präsident ein Abkommen zum Schutz von Frauen aufkündigt, erntete in weiten Teilen der türkischen Öffentlichkeit auch daher Unverständnis, weil sich in der Türkei regelmäßig grausame Frauenmorde ereignen. Stets wird kritisiert, dass zu wenig getan werde, um Frauen vor Gewalt zu schützen.

Aktionen in sozialen Netzwerken, die auf das Problem hinweisen, und engagierte Frauenrechtsgruppen erhöhen den Druck auf die offiziellen Stellen. Doch sowohl die Regierung in Ankara als auch die türkische Justiz haben das Problem lange Zeit totgeschwiegen. Und das, obwohl nach den Zahlen der Organisation "Wir werden Frauenmorde stoppen" im vergangenen Jahr 300 Morde an Frauen registriert wurden. Zudem wurden 171 Todesfälle als "suspekt" eingestuft, darunter auch angebliche Selbstmorde.

Istanbul-Konvention: Auch vor Austritt wirkungslos

Der Austritt aus der Istanbul-Konvention ist für Frauenrechtlerinnen ein weiterer Rückschlag. Viele türkische Frauen sahen das Abkommen als letzte Hoffnung. Denn die Unterzeichnerstaaten haben sich verpflichtet, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen.

Die Türkei ratifizierte das Übereinkommen 2014 und ließ es als Gesetz zur Vorbeugung von Gewalt gegen Frauen und zum Schutz der Familie rechtlich verankern. Doch in der Praxis, sagen Kritikerinnen und Kritiker, werden die Rechtsnormen der Istanbul-Konvention in der Türkei nicht angewandt. Daher konnte die Istanbul-Konvention bereits vor dem Austritt am Samstag Gewalt gegen Frauen nicht verhindern.