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Politik

Leere auf dem Mittelmeer vor Italien

Markus Böhnisch
29. August 2017

Angeblich warten bis zu 700.000 Menschen in Libyen auf eine Überfahrt nach Italien. Doch seit wenigen Wochen kommen kaum noch Flüchtlingsboote übers Mittelmeer. Markus Böhnisch war unterwegs mit einer Frontex-Patrouille.

Frontex-Patrouille mit Guardia Civil im Mittelmeer
Bild: DW/M. Böhnisch

Sizilien, Lampedusa, Mittelmeer - diese Kombination steht seit mindestens drei Jahren nicht mehr für Urlaubsassoziationen. Es sind Bilder von erschöpften und erschreckten Menschen, eingepfercht auf alten Booten, die vor dem geistigen Auge erscheinen.

Ich will mir ein Bild machen und fliege in die italienische Hafenstadt Catania. Am Vorabend habe ich Zeit für einen kurzen Blick in die Altstadt, das Verkehrs-Chaos auf den Straßen und steige am nächsten Morgen auf ein wohlorganisiertes Schiff der spanischen Guardia Civil. Ich bin auf einer Mission der europäischen Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeer dabei.

Deutlich weniger Flüchtlinge

Nichts erinnert im ersten Augenblick an Flüchtlingselend. Im Hafen liegen Schiffe von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen, dazu Schiffe der italienischen Küstenwache. Es scheint, als könnte sich das Flüchtlingsthema vielleicht bald erledigt haben.

Mittlerweile umgerüstet für die Aufnahme von Flüchtlingen: das spanische Schiff "Rio Segura"Bild: DW/M. Böhnisch

Frontex unterlegt diesen ersten Verdacht mit Zahlen. In den letzten Wochen sind deutlich weniger Flüchtlinge von Libyen oder Tunesien gen Italien unterwegs gewesen. Noch in den ersten sieben Monaten dieses Jahres waren es mehr als 94.000, so viele wie vor einem Jahr.

Doch in den ersten drei Wochen im August kamen nur noch 3000 Flüchtlinge, ein Jahr zuvor waren es im gleichen Zeitraum noch 21.300.

Als wir den Hafen mit Kurs auf das offene Mittelmeer verlassen, zeigt mir die Besatzung Bilder anderer Einsätze. Mehr als 1000 Menschen retteten die Männer vor einigen Monaten aus zehn Schlauchbooten. Plötzlich war das Schiff voll mit verängstigten Kindern, Frauen und Männern, mit Geschichten von Menschen, die ihre Hoffnung auf ein besseres Leben fast mit dem Tod bezahlt hätten.

Vor wenigen Wochen noch ein fast alltägliches Bild: Flüchtlinge auf einem völlig überladenen Boot vor der Küste LibyensBild: Getty Images/AFP/A. Messinis

Schwimmwesten auf Vorrat

Das Boot der Guardia Civil, die Rio Segura, ist sieben Jahre alt und 73 Meter lang. Es war nie für die Unterbringung von mehr als 1000 Menschen vorgesehen. "Der Kapitän wusste, dass es riskant war. Doch er wusste auch, dass er die Menschen nicht zurücklassen konnte, weil sie sonst ertrunken wären", erinnert sich der Polizist Juan Carlos Perez Marfil an diesen Tag.

Die Rio Segura ist ein Beleg dafür, wie die jahrelange Erfahrung mit Immigranten auch die Ausrüstung der spanischen Polizei verändert hat. Die Guardia Civil soll eigentlich die spanischen Grenzen sichern, Drogenschmuggler aufspüren, illegale Fischer stellen.

Doch seit Tausende in den 2000er Jahren aus Afrika in Richtung Spanien flüchteten und die Polizei immer öfter zum Seenotretter wurde, mussten auch die Schiffe an diese neue Aufgabe angepasst werden. Spezielle Bereiche und Türen für eine einfachere Rettung, genug Schwimmwesten auf Vorrat, extra Toiletten.

Das Suchraster der spanischen Frontex-Patrouille auf dem Radar der "Rio Segura"Bild: DW/M. Böhnisch

Zwischen Sizilien und Libyen kamen diese Änderungen schon mehrmals zum Einsatz und gleich wieder an ihre Grenzen. Denn 1000 Menschen auf einmal zu retten, das hatte niemand vorhergesehen.

Weit und breit nichts

Die Mission, die ich begleite ist seit 21 Stunden unterwegs, als wir gegen 9.00 Uhr am Dienstagmorgen nahe der Insel Pantelleria eine Schwimmweste im Wasser treiben sehen. Die erfahrenen Polizisten nehmen sie zur Kenntnis. Wenige Minuten später wird das Schiff langsamer. Kapitän Francisco Alba Sánchez erklärt mir, dass noch eine Weste gesichtet wurde. Kursänderung. Das Schiff kommt kurz darauf zum Halt. Die Crew auf der Brücke hält Ausschau. Feldstecher, Radar, eine spezielle Kamera am Mast – doch sie finden nichts.

Nach zehn Minuten nimmt die Rio Segura wieder Fahrt auf. Das Ziel ist die internationale Seegrenze zu Tunesien. Dort wollen die 33 Männer und eine Frau patrouillieren. Gegen 12.00 Uhr erreichen wir den Bereich. Statt mit einer Geschwindigkeit von 15 Knoten läuft die Rio Segura nun mit 5 Knoten. Wir tuckern gen Süden, dann wieder zurück nach Norden.

Nächtliche Suche

In der Nacht sucht die Besatzung doch noch nach einem Boot mit angeblich 16 Flüchtlingen. Das Einsatzzentrum in Rom hat die Polizisten alarmiert. Doch weil auch ein Luftaufklärer nichts gesehen hatte, wird die Suche am nächsten Morgen eingestellt.

Ende einer nächtlichen Suche nach einem FlüchtlingsbootBild: DW/M. Böhnisch

Am vierten Tag der Patrouille nehmen wir Kurs auf Trapani an der Westküste Siziliens. Die Besatzung ist sichtbar überrascht, dass sie seit dem Start ihrer Mission am 13. Juli 2017 keine Menschen mehr aus Seenot gerettet hat. Gründe kann sie keine nennen.

Frontex-Sprecherin Paulina Bakula, die mit an Bord ist, berichtet von verstärkter Aktivität der libyschen Küstenwache. Außerdem soll es Kämpfe rund um die Küstenstadt Sabratah geben. Details hat sie aber auch nicht.

Dankbarer Applaus im Hafen

Von Trapani fahre ich wieder nach Catania. Der Präsident des Europaparlaments, Antonio Tajani, trifft sich dort mit Frontex-Chef Fabrice Leggeri.

Tajani sagt nach dem Treffen, dass Milliarden Euro in Afrika investiert werden müssten, um für die Menschen vor Ort Perspektiven zu schaffen. Und er redet davon, dass der Korridor über das Mittelmeer geschlossen werden muss. Es bestehe Gefahr, dass sich islamistische Terroristen unter die Flüchtlinge mischten.

Diese Sorge scheint nicht zu dem Bild absoluter Dankbarkeit zu passen, das mir der Kapitän des spanischen Grenzschutzschiffes noch am Vortag beschrieb: Als er mit den 1000 Geretteten im Hafen einlief und die spanische Flagge am Schiff hisste, standen die Flüchtlinge auf und applaudierten. "Da bekam ich Gänsehaut", erinnert sich Sánchez.

Seit Jahren ertrinken tausende Menschen auf ihrer Flucht über das Mittelmeer nach EuropaBild: Getty Images/AFP/D. Dilkoff

Seenotrettung für Terroristen?

Meine Gänsehaut im Hafen von Catania hat einen anderen Grund: Den, dass der Präsident des Europaparlaments die Flüchtlingsroute zum Einfallstor für Terroristen nach Europa deklariert. Schließlich würde das bedeuten, dass Hilfsorganisationen, Marineschiffe und Küstenwache mit jedem Menschen, den sie aus Seenot retten, potentiell einem Terroristen helfen könnten.

Ausgeschlossen ist das natürlich nicht. Angesichts der wenigen konkreten Fälle erscheint mir das Bild des Parlamentspräsidenten aber verzerrt. So verzerrt wie der krasse Rückgang der Flüchtlingszahlen. Alle Akteure wissen, dass schon in ein paar Tagen wieder Tausende Menschen aus Seenot gerettet werden könnten.

Eine dauerhafte Entspannung erwartet niemand. Die Zahl der Flüchtlinge, die auf eine Überfahrt nach Europa hoffen, ist einfach zu groß. 

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