1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

"Italien hat für Dschihadisten besonderen Stellenwert"

23. Dezember 2016

Dass Anis Amri nach der Tat in Berlin nach Mailand flüchtete, ist wohl kein Zufall. Dort gibt es eine rege salafistische Szene, sagt der Soziologe Marco Lombardi. Überhaupt weist Italien hier einige Besonderheiten auf.

Italien Mailand Piazza Duomo
Bild: Getty Images/V.Z. Celotto

DW: Marco Lombardi, Anis Amri wurde in Mailand erschossen. Haben Sie irgendeine Vorstellung, wo er hätte hingehen können?

Marco Lombardi: Rund um Mailand gibt es einige kleinere Städte, die zu islamistischen Zentren wurden - vor allem im Norden, in der Region Varese. Dort kommt man von Sesto San Giovanni, wo Anis Amri erschossen wurde, sehr einfach hin. Diese Region ist ein Zentrum der islamistischen Szene, ebenso Bergamo und Brescia. Die meisten der in Italien verhafteten Islamisten kommen aus dieser Region. Es gibt dort eine Menge kleiner, irregulärer Moscheen, die von radikalen Salafisten geleitet werden. Allerdings ist fraglich, wo er überhaupt hinwollte.

Vielleicht war er ja nur auf der Durchreise?

Absolut. Hier wird gerade die These diskutiert, dass er auf dem Weg nach Süditalien war. Denn er war ja vier Jahre in einem süditalienischen Gefängnis, so dass er dort vermutlich einige Verbindungen hat. Möglich ist allerdings auch, dass er in Richtung Balkan floh. Das ist insofern plausibel, als viele der Salafisten rund um Mailand Beziehungen in den Balkan haben.

Wie lässt sich die salafistische Szene in Italien beschreiben, so unterschiedlich sie im einzelnen auch sein mag?

Die Zahl der radikalisierten Muslime ist längst nicht so hoch wie in unseren nördlichen Nachbarländern. Wir zählen derzeit 112 sogenannte "ausländische Kämpfer" - also Personen, die in den Kriegsgebieten des Nahen Ostens kämpfen. Davon sind nur zwischen sechs und acht nach Italien zurückgekehrt. Allerdings gibt es zusätzlich eine größere Zahl von Personen, die zwar nicht Mitglied des "Islamischen Staates" sind, die aber dennoch eine Gefahr für Italien und Europa darstellen. Die meisten dieser Leute kamen als illegale Migranten. Einige andere sind konvertierte Italiener. Das heißt allerdings mitnichten, dass alle Migranten Terroristen sind. Diese Vorstellung ist absurd. Allerdings gibt es Radikale, die die schwierige Situation der Migranten für ihre Zwecke ausnutzen.

Sie sagten, es gebe nur rund hundert ausländische Kämpfer, die aus Italien gekommen sind. Das ist in der Tat verhältnismäßig wenig. Was sind die Gründe dafür?

Es gibt etwa demographische Gründe: So gehören die meisten Extremisten in Italiens nördlichen Nachbarländern zur dritten Einwandergeneration. Das beste Beispiel dafür ist Frankreich. Es handelt sich um Franzosen islamischen Glaubens. In Italien gibt es diese dritte Generation noch kaum, denn hier ist die Migration noch ein relativ junges Phänomen. Sie begann in den frühen 1990er-Jahren. Hinzu kommt, dass die italienischen Sicherheitsbehörden recht effektiv arbeiten.

Der Soziologe und Terror-Experte Marco Lombardi Bild: Marco Lombardi

Welche Rolle spielt Ihrer Einschätzung nach Italien in der Strategie der Dschiahdisten?

Es gibt eine Reihe von Personen, die sich in Italien radikalisiert haben. Das gilt ja auch für Anis Amri. Die Dschihadisten reisen von Italien in Richtung Nordeuropa und kommen dann wieder zurück. Italien ist für sie also gewissermaßen eine logistische Basis. Darum ist das Land womöglich nicht so sehr ein Angriffsziel wie andere Länder. Andererseits stellt Italien für die Dschihadisten wohl ein besonderes Land dar. Bekannt ist ja das Titelbild des dschihadistischen online-Magazins "Inspire", auf dem über dem Petersplatz die dschihadistische Fahne weht. Insofern ist Italien so etwas wie die letzte Etappe, das Armageddon des Kampfes gegen die so genannten "Ungläubigen". 

Sie beschrieben gerade das dschihadistische Weltbild. Welche Rolle spielt dieses im Verhältnis zu anderen Radikalisierungsphänomenen - etwa sozialen oder solchen der Lust auf Abenteuer?

Dies Frage wird in Kreisen der Terrorbekämpfung derzeit intensiv diskutiert. Bis jetzt gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass Radikalisierung vor allem von religiösen oder ideologischen Motiven angetrieben wird. Unter den Dschihadisten gibt es viele enthemmt zornige oder psychisch erkrankte Personen - Psychopathen aller Art. Es gibt viele Spielarten der Radikalisierung. Sie nehmen wir in den Blick, wenn es um Präventionsarbeit geht. Gleichzeitig betrachten wir terroristische Aktionen gleichzeitig auch unabhängig von den Motiven. Denn Terror legt es vor allem auf eines an, nämlich Angst zu erzeugen - ganz unabhängig von den Gründen, die den einzelnen Terroristen antreiben.

Der Soziologe und Terrorexperte Marco Lombardi lehrt an der Università Cattolica del Sacro Cuore in Mailand. Zuletzt erschien von ihm das Buch "Il terrorismo nel nuovo millennio" (Der Terrorismus im neuen Jahrtausend).

Das Interview führte Kersten Knipp.

Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika
Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen