Numero Uno: Italien jetzt EM-Topfavorit?
17. Juni 2021Die Nr. 1 heißt Italien! Als erstes der 24 EM-Teams steht die "Squadra Azzurra" im EM-Achtelfinale. Und "verdient" wirkt dabei noch stark untertrieben. Wie schon im Auftaktspiel gegen die Türkei brannte die Mannschaft von Roberto Mancini auch beim 3:0-Erfolg gegen die Schweiz ein Feuerwerk aus Leidenschaft, Einsatzwille und begeisterndem Offensivfußball ab.
Schon bei der Hymne in Rom kam es wieder auf, das Gefühl, dass hier ein Team auf dem Rasen steht, das für das Turnier und den Erfolg brennt. In bekannter Manier schmetterte die Mancini-Elf Italiens Hymne lautstark in den abendlichen Himmel der Hauptstadt Rom, in der eine italienische Nationalmannschaft bis dato noch nie ein WM- oder EM-Endrundenspiel verloren hatte.
Das Catenaccio-Klischee in die Mottenkiste?
Dass das auch heute so bleiben würde, wurde schnell klar. Der erste Treffer von Kapitän Giorgio Chiellini wurde zwar wegen Handspiels zurecht aberkannt, doch Manuel Locatelli (26./52.) und Ciro Immobile (89.) schossen die Tore für den auch in der Höhe verdienten Sieg des Weltmeisters von 2006 heraus. Echte Gegenwehr war allenfalls partiell wahrzunehmen. Und das, obwohl die Schweizer in der Defensive keinesfalls unkonzentriert wirkten. Vielmehr kamen sie beim italienischen Tempofußball, der vor Spielwitz nur so sprühte, nicht mit. Man spricht hier gerne vom berühmten Klassenunterschied.
Und genau da liegt der Grund für die Begeisterung, die Italien aktuell wohl nicht nur bei den eigenen Anhängern entfacht. Ein 1:0 verwalten, sich hinten reinstellen und mit aller Macht verteidigen - diese Methode, die gleichermaßen Erfolgsrezept wie Klischee des italienischen Fußballs war, beziehungsweise noch ist, scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören. Ade Catenaccio, willkommen Offensivfußball: Wäre die bisherige EM ein Film aus italienischer Perspektive - diesen Titel könnte er tragen.
Und da nach Deutschlands Niederlage gegen Frankreich gerade Englands Rekord-Torjäger Gary Lineker seinen Kult-Spruch "Fußball ist ein einfaches Spiel: 22 Männer jagen 90 Minuten lang einem Ball nach, und am Ende gewinnen immer die Deutschen" laut eigener Aussage "in Rente" schicken will, wäre es wohl auch ein guter Zeitpunkt, das Klischee des unansehnlichen italienischen Catenaccio in die Mottenkiste zu packen.
Mancinis Werk
Das ist der Verdienst von Roberto Mancini. Der 56-Jährige ist seit gut drei Jahren Nationaltrainer Italiens, hat der Mannschaft einen Umbruch verordnet und setzt - wie auch beispielsweise Luis Enrique bei Spanien - auf junge, teilweise international noch unbekannte Spieler. Diese Verjüngungskur ermöglicht es dem Trainer, der als kluger Taktiker gilt, formbare Spieler zu einer Einheit nach seiner Philosophie zu machen - offensive Ausrichtung inklusive.
Dies gelingt Mancini aktuell auf beeindruckende Art und Weise. Ohnehin scheint dem Mann, der unter anderem Inter Mailand, Manchester City und Zenit St. Petersburg trainierte, seit seinem Amtsantritt als Nationaltrainer alles von der Hand zu gehen. Mancini begeistert die italienische Klatschpresse wahlweise mit austrainiertem Körper in Badehose am Strand oder im taillierten grauen Sakko zum Maßanzug an der Seitenlinie. Mancini ist auf dem Weg, "Everybody´s Darling" Italiens zu werden. "Dieser Sieg ist für alle, die heute hier im Stadion waren, für alle Italiener und für alle Menschen, die momentan ein schlechtes Leben haben", sagte der Trainer nach dem Spiel.
"Keine Grenzen"
"Wir wollten um jeden Preis gewinnen", sagte der Coach im italienischen Fernsehen und kokettierte auch schon ein wenig mit der Favoritenrolle seiner Mannschaft: "Wir spielen immer, um zu gewinnen - und setzen uns keine Grenzen", so Mancini, der zuletzt "völlig unitalienisch" davon gesprochen hatte, dass man auch "immer Spaß haben" wolle. Und offenbar ist die Aura des Trainers der ideale Nährboden für eine begeisternd aufspielende italienische Mannschaft. Die Bilanz Mancinis und seines Teams liest sich wie aus dem Bilderbuch: 29 Spiele in Folge ungeschlagen, zehn Siege in Serie kein einziges Gegentor kassiert - Italien ist das Team der Stunde.
Nicht nur im EM-Achtelfinale ist die "Squadra Azzurra" die "Numero Uno", sondern auch im Kreis der EM-Favoriten. Oder hat Italien diesen nach zwei Fußball-Feuerwerken bereits verlassen und ist der alleinige Top-Favorit dieses Turniers? Diese Frage würde Roberto Mancini sicher mit "Nein" beantworten - allein aus taktischen Gründen. Der 56-Jährige wird sein Team als erfahrener Trainer vor Übermut und Selbstgefälligkeit warnen. Gelingt es ihm, die Euphorie intern und auch von extern zu kanalisieren und nicht zur Gefahr werden zu lassen, stünde einem italienischen EM-Titel - dem zweiten nach 1968 - nicht mehr allzu viel im Wege. Erst recht nicht aus fußballerischer Sicht.