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Dirigent Velikanov: Entlassen für Friedensappell

2. März 2022

Kurz nach Beginn der russischen Invasion in die Ukraine setzt ein junger Stardirigent auf der Bühne ein Zeichen für den Frieden - mit für ihn weitreichenden Folgen.

Ivan Velikanov
Setzt sich für den Frieden ein: Dirigent Ivan Velikanov Bild: Ivan Starostin

Am 25. Februar, dem zweiten Kriegstag, stand in der Oper von Nischni Nowgorod, der Wolga-Metropole mit mehr als 1,2 Millionen Einwohnern, Mozart auf dem Spielplan: "Figaros Hochzeit". Der Dirigent des Abends, Ivan Velikanov, kam vor der der Aufführung auf die Bühne, rief in einer kurzen Rede zum Frieden auf und stimmte mit dem Orchester Beethovens "Ode an die Freude"an. Danach gab es "Figaro", und nach der Oper - die Suspendierung des Dirigenten von allen weiteren Aufführungen seiner eigenen Inszenierung, die für den höchsten russischen Theaterpreis "Goldene Maske" nominiert worden ist. Ivan Velikanov, Jahrgang 1986, ist der junge Star der russischen Musikszene und wird schon mal als "der neue Theodor Currentzis" gefeiert. Die DW sprach mit dem Musiker, der sich zur Zeit in Moskau aufhält.

Herr Velikanov, was genau haben Sie am 25. Februar in Nischni Nowgorod gesagt, bevor Sie Mozarts Oper "Die Hochzeit des Figaro" dirigierten, und warum haben Sie das getan?

Ich sagte, Krieg ist schlecht, und Frieden ist gut. In meiner Naivität ging ich davon aus, dass man darüber nicht zu streiten braucht. Und gesagt habe ich es, weil der Krieg begonnen hatte. Ich meine, wir sollten heute, wo sich so viele Schatten über den hellen Tag legen, die Dinge besser beim Namen nennen, so einfach wie möglich.

Wie war die Reaktion der Menschen im Zuschauersaal?

Die Menschen applaudierten, jemand rief "Bravo!" Später wurde mir allerdings erzählt, dass einige ältere Damen sich empören wollten.

Warum?

Weil sie russisches Fernsehen sehen und glauben, das sei kein Krieg, sondern eine "Sonderoperation". Leider kommt das gar nicht so selten vor. Die Propagandakultur in Russland ist so weit entwickelt und hat eine so mächtige, jahrhundertealte Geschichte, dass man sich hier über nichts zu wundern braucht, und ich gebe diesen oft einfachen oder älteren Menschen sogar keine Schuld. Wie könnte es anders sein?

Nischni Nowgorod: Wolgas KulturmetropoleBild: Vladimir Smirnov/Tass/dpa/picture alliance

Sie haben Beethovens "Ode an die Freude" gespielt. Warum gerade sie?

Weil Krieg unvereinbar ist mit Leben und Kunst, und diese Idee hat keiner besser zum Ausdruck gebracht als Ludwig van Beethoven. "Ode an die Freude" ist ein allgemeinmenschliches Symbol des Friedens: "Seid umschlungen, Millionen!" - was könnte hier missverstanden werden? Dass es auch die Hymne der Europäischen Union ist, was mir jetzt zum Vorwurf gemacht wird, daran habe ich da gar nicht gedacht.

Haben Sie Ihre kleine, friedliche Aktion mit den Musikern des Orchesters, den Sängern, der Theaterleitung abgesprochen? Haben sie Sie unterstützt?

Das ist eben eine sehr heikle Frage: Ich habe mit niemandem etwas abgesprochen und habe ganz autark agiert. Ich bat einfach den Orchesterbibliothekar, die Noten der Neunten Symphonie auf die Notenständer zu stellen. Für die Musiker war es eine Überraschung. Wenn mir also einer der Musiker des Orchesters oder die Theaterleitung etwas vorwerfen will, dann ist dies berechtigt. Grob gesagt, wenn der Dirigent ein Offizier ist, und die Musiker Soldaten, dann war ich ein solcher Offizier, der sich geweigert hat, den verbrecherischen Befehl des Generals auszuführen. Und die Soldaten sind verpflichtet, ihrem Offizier zu gehorchen. Selbstverständlich hätte irgendwer nicht mitspielen können, aber ich glaube, dass alle gespielt haben.

Haben Sie sich als ein solcher Offizier gefühlt?

Eher habe ich mich einfach als Mensch gefühlt, der die Wahrheit sagen muss. Wobei es eine offensichtliche Wahrheit ist, der man nichts entgegensetzen kann. Hätte ich gewusst, dass dies als politische Aktion wahrgenommen wird, hätte ich vielleicht eine andere Form gewählt. Vielleicht habe ich es auch getan, weil ich am Vorabend im Zuschauersaal eine schwere, gedrückte Stimmung gespürt habe: Wir spielen hier den heiteren und lebensfrohen Mozart, während Bomben und Raketen durch die Luft pfeifen - egal, wer sie abfeuert.

Sie sprechen von der "gedrückten Stimmung" des Publikums. Wie beurteilen Sie die allgemeine Stimmung in der Wolga-Metropole Nischni Nowgorod, einer der größten Städte Russlands?

Sie ist uneinheitlich. Jedem ist klar, dass in Russland ein kalter Bürgerkrieg tobt. Die Grenzen verlaufen nicht nur innerhalb der Gesellschaft als Ganzes, sondern oft auch innerhalb eines einzelnen Kollektivs, Betriebs, einer Familie. Es mag unterschiedliche Ansichten über das Geschehen geben, über die Medien, denen man vertraut, sowie unterschiedliche Zukunftsprognosen und unterschiedliche Schuldzuweisungen. Aber es gibt einen gemeinsamen Nenner: Es gibt ein verbotenes Thema, und dieses Thema geht absolut alle an. Es ist unmöglich, über etwas anderes nachzudenken oder zu sprechen.

Kultur als Chefsache: Sitzung des "Rates für Kultur und Kunst" bei Präsident Wladimir Putin im KremlBild: Getty Images/AFP/M. Shipenkov

Die Leitung des Theaters von Nischni Nowgorod hat sehr rasch Ihre Suspendierung beschlossen. Das löste einen Sturm der Entrüstung in der Kulturszene aus. Glauben Sie, die Leitung hätte die Möglichkeit gehabt, eine andere Entscheidung zu treffen?

Wenn man sich nicht im Epizentrum des Informationskrieges befindet, ist das schwer zu verstehen: Für die Menschen in Russland ist offensichtlich, dass keine Leitung eines staatlichen Theaters eine Entscheidung ohne Einmischung von oben treffen kann. Ich weiß, dass viele versucht haben, mich zu verteidigen. Die Entscheidung über meine Suspendierung wurde ganz oben getroffen.

Die Leute haben völlig jene Zeiten vergessen, als sich ein gewisser Joseph Stalin nicht nur sehr dafür interessierte, was etwa die große Pianistin Maria Judina sagte, sondern auch, was sie spielt. Das fehlende historische Gedächtnis bei jenen, die sagen: "Das Staatsoberhaupt Russlands ist zu beschäftigt, er hat andere Dinge zu tun" verblüfft mich in dieser Situation: Die Staatsoberhäupter Russlands finden immer Zeit danach zu fragen, was die Künstler gerade tun.

Frage des Anstandes: Ivan VelikanovBild: S.Ryzhov

Überall auf der Welt wird derzeit zum Boykott von Kunst aus Russland aufgerufen: Die Filmfestspiele von Cannes werden keine russischen Delegationen empfangen, Valery Gergiev und Anna Netrebko nicht auf den großen Bühnen der Welt auftreten, selbst Werke russischer Komponisten werden aus Konzertprogrammen entfernt. Was denken Sie darüber?

Ich denke nicht, dass das gut ist. Vor allem, wenn pauschal alle schuldig gesprochen werden. Das wirkt wie blinde Rache. Ich verstehe, dass es ein Ausdruck der Solidarität ist, aber dieses Vorgehen ist irgendwie sinnlos, aggressiv, und vor allem trifft es meistens die Falschen.

Wieviel Mut muss man heute in Russland haben, um "Nein" zum Krieg zu sagen? Was riskiert jemand, der sich wie Sie verhält?

Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, weil in den vergangenen Tagen eine völlig neue Situation entstanden ist. Wie Sie wissen, wurden Tausende von Menschen festgenommen, weil sie sich an Demonstrationen und Protestaktionen gegen den Krieg beteiligt haben - ob Rentner, Studierende oder Jugendliche. Wir wissen aber nicht, zu welchen Maßnahmen die Machtorgane gegenüber den Künstlern greifen werden - und da geht es nicht nur um mich, sondern auch zahlreiche andere Musiker, Schauspieler, Theaterleiter und so weiter. Ich kann ehrlich sagen, dass bisher keine repressiven Maßnahmen gegen mich persönlich ergriffen wurden, außer des Ausschlusses von Aufführungen. Gerade jetzt gehe ich zu einer Probe ins Bolschoi Theater, ich bereite eine "Falstaff"-Premiere vor. Aber was morgen passiert, das weiß ich nicht.

Das Interview führte Anastassia Boutsko.

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