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Politik

Izmir: Eine Stadt sagt NEIN

Daniel Heinrich
17. April 2017

Die türkische Opposition protestiert, für viele Menschen in Izmir ist das Ergebnis des Referendums ein Schock. Knapp 70 Prozent der Bürger stimmten hier mit "HAYIR", "NEIN". Daniel Heinrich berichtet aus Izmir.

Türkei Referendum Stimmzettel (picture-alliance/abaca/AA(R. Aydogan)
Bild: picture-alliance/abaca/AA(R. Aydogan

Hüseyin Saygili kann es nicht fassen, mit so einem Ergebnis hätte er nie gerechnet. Für den graumelierten 54-Jährigen im dunklen Maßanzug steht fest: "Das, was heute passiert ist, wirft die demokratische Entwicklung der Türkei um Jahre zurück. Wir werden morgen in einem noch autoritäreren Land aufwachen, davon können Sie ausgehen. Recep Tayyip Erdogan wird das Land regieren, wie er seine Partei regiert hat und nicht wie es sich für ein neutrales Staatsoberhaupt gehört."

Für Saygili ist es das enttäuschende Ende eines sehr langen Tages. Seit fünf Uhr morgens ist er auf den Beinen, hatte bis zur Schließung der Wahllokale um 17 Uhr im Atatürk-Gymnasium ausgeholfen, als Wahlbeobachter aufgepasst, dass im Wahllokal in seiner Nachbarschaft alles mit rechten Dingen zugeht.

Noch hoffnungsfroh: CHP-Mitglied Hüseyin Saygili am Wahltag bei der Stimmabgabe in der Innenstadt von IzmirBild: DW/D. Heinrich

Saygili ist Mitglied der kemalistischen Cumhuriyet Halk Partisi (CHP), der Republikanischen Volkspartei. Seit den Anfangsjahren der türkischen Republik sieht sich die Partei als Verteidiger der Prinzipien Kemal Atatürks, dem Gründervater der heutigen Türkei.

Seit 1923 gilt der "Kemalismus" als die Grundkonstante der Republik Türkei. Die Idee des türkischen Präsidenten Erdogan diese Staatsform durch ein präsidentielles System zu ersetzen ist für jemand wie Saygili "unvorstellbar".

Überall in den Straßen Werbung für "HAYIR"

Saygili kann sich nicht nur der Zustimmung im schicken Innenstadtbezirk Alsancak sicher sein. Izmir, das bis zum ersten Weltkrieg Smyrna hieß, ist mit vier Millionen Einwohnern nach Istanbul und Ankara die drittgrößte Stadt des Landes und gilt als die liberalste Stadt der Türkei.

Saygilis Partei, die CHP, ist landesweit die größte Oppositionspartei, in Izmir gilt sie als regelrechte Macht. Die knapp 70 Prozent der Menschen, die sich bei diesem Referendum hier gegen Staatspräsident Erdogan gestellt haben, sind keine Ausnahme: Auch bei den letzten Präsidentschaftswahlen stimmten fast 70 Prozent der Bürger gegen Erdogan, die Abneigung gegen den Staatspräsidenten ist überall spürbar.

Erdogan? "Nicht mein Präsident"

Tugce Özcan sitzt mit ein paar Freunden auf einer Wiese in der Nähe der von Cafés und Kneipen gesäumten Uferpromenade von Izmir. Das Bier in der Hand, den Blick gen Westen über das Meer nach Europa gerichtet, erzählen hier alle auf der Wiese, dass sie natürlich mit "HAYIR", mit "NEIN" gestimmt haben.

Egal, ob Erdogan offiziell an der Spitze des Landes steht, für viele der jungen Menschen hier ist er ganz offen "nicht mein Präsident". Wie aber sieht es aus mit dem Verständnis für "die andere" Seite, für diejenigen im Rest des Landes, die mit "EVET", also mit "JA" gestimmt haben?

Für die 24-Jährige Politikstudentin Özcan sind deren Beweggründe klar: "Zum einen gibt es viele Leute aus dem JA-Lager, die unter der AKP-Regierung reich geworden sind, die immer noch gute Geschäfte mit der Regierung machen. Diese Leute brauchen die Zusammenarbeit, weil sie massiv von der Regierung, der AKP, von Erdogan profitieren. Dann gibt es noch die gläubigen Türken. Einige religiöse Menschen in der Türkei glauben tatsächlich, dass Erdogan und seine Partei nach religiösen Maßstäben handeln würden."

Zeigt auch in Izmir Präsenz: Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim bei der Stimmabgabe in IzmirBild: REUTERS

Unfaire Bedingungen im Wahlkampf

Ganz in der Nähe des Platzes, an dem an diesem Abend Özcan und ihre Freunde sitzen, konnte man noch vor einer Woche beobachten, mit welcher Chuzpe sich der türkische Präsident auch in Izmir in den Kampf ums Referendum einmischte. Als Präsident qua Verfassung eigentlich zur Neutralität verpflichtet, rührte er auch in Izmir ganz offen die Werbetrommel für das "JA“-Lager. Warb vor seinen Anhängern mit vom Wahlkampf heiserer Stimme für "Stabilität im Land".

Der Türkei-Experte Kristian Brakel seufzt, als er im DW-Interview auf das Thema "Fairness" im Referendumswahlkampf angesprochen wird. Er prangert ganz offen die Ungereimtheiten an. "Die Unterstützer der JA-Kampagne bekamen teilweise Autos gestellt, Stellwände gestellt, sie konnten zum Teil auch auf die Moscheegemeinden zurückgreifen, um Werbung zu machen. Das sind alles Dinge, die eigentlich überhaupt nicht dafür zur Verfügung gestellt werden dürften."

Zweckoptimismus bei der CHP

In der Innenstadt von Izmir, im Atatürk-Gymnasium in Alsancak, flüchtet sich der CHP-Mann Hüseyin Saygili in Zweckoptimismus. Er hofft vor allem auf die Jugend des Landes:

Türkei stimmt beim Referendum mit "JA"

01:36

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"Dieses Ergebnis hat nicht viel zu bedeuten, die nächste Generation wird das alles ganz anders sehen. Ich gebe dieser Verfassung keine große Lebensdauer, dieses Referendum wurde im Ausnahmezustand viel zu schnell durchgedrückt. Sehen Sie sich allein den Wahlkampf an: Die Art und Weise wie er geführt wurde, war alles andere als fair. In meinen Augen repräsentiert das Ergebnis in keiner Weise den wahren Willen des gesamten Volkes."

Nach einem langen Tag in Izmir, nach einem langen Wahltag im ganzen Land, bleibt bei einem Blick auf die ausgezählten Stimmen wohl nicht viel mehr, als ihm zuzustimmen. Insgesamt stimmten 49 Prozent aller Türken gegen das Präsidialsystem.

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