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Türkische Schlepper auch im Winter aktiv

Diego Cupolo, Izmir, Türkei/ cb9. Februar 2016

Flüchtlinge kommen in Rekordzahl in die EU - viele aus der Türkei, wo Schlepper ganz offen agieren, trotz Drucks von der EU und der lokalen Polizei. Diego Cupolo berichtet aus Izmir.

Straßenszene in Izmir (Foto: Diego Cupolo)
Bild: DW/D. Cupolo

Man muss nicht wissen, an wen man sich wenden soll auf dem Basmane-Platz - die Schlepper sprechen Neuankömmlinge direkt an und rattern alle Details über das Boot herunter, das nach Griechenland fährt. Genau wie bei gut geübten Callcenter-Mitarbeitern, die Produkte am Telefon verkaufen, ist es unmöglich, die Männer zu unterbrechen.

"650 Dollar", sagt ein junger Mann auf Arabisch mit deutlich syrischem Akzent. Die Überfahrt in die EU kostet umgerechnet rund 585 Euro. "Das Boot fährt heute Abend bei Sonnenuntergang nach Lesbos. Es werden nicht mehr als 35 Menschen an Bord sein und der Fahrer spricht vier Sprachen."

"Als Erstes bringe ich dich zu einem Haus", sagt er. "Von da holt dich ein Van ab und bringt dich zum Boot. Die Fahrt dauert eine Stunde und das Boot legt garantiert ab - oder du bekommst dein Geld zurück."

Dann schiebt er noch hinterher: "Hier, nimm meine Nummer. Ruf mich an, wenn du irgendwelche Fragen hast. Ich werde noch zwei Stunden hier sein."

Dass ich eine große Kamera dabei habe, scheint er nicht zu bemerken, oder es ist ihm egal. Als er bei mir fertig ist, geht er zu einer Gruppe junger Männer mit Rucksäcken, um ihnen das gleiche zu erzählen.

Nach einem kurzen Gespräch führt er sie in ein Café, wo vermutlich das Geschäft zustande kommt. Andere Schlepper sitzen in einem Park auf der anderen Straßenseite und verhandeln mit Familien, die ihr Hab und Gut in Mülltüten mit sich herumtragen.

Die Flucht vor dem Krieg

In Izmir werden immer noch leuchtend-orange Schwimmwesten verkauft, sie hängen nur nicht mehr draußen vor den Läden. Wie der Menschenschmuggel sind sie ein Teil des täglichen Handels, nur ein bisschen weniger sichtbar als noch vor Kurzem.

Am Montag besuchte Kanzlerin Angela Merkel die Türkei, um über die große Anzahl Flüchtlinge zu sprechen, die über das Land in die EU einreisen. Der Strom verlangsamte sich auch über den Winter kaum.

Kanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in AnkaraBild: Reuters/U. Bektas

Trotz wachsenden Drucks von Seiten der EU und der türkischen Polizei haben mehr als 68.000 Menschen diesen Weg allein im vergangenen Monat gewählt. Im Januar 2015 waren es nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration noch 5000. Experten erwarten, dass im Februar mehr als 68.000 Flüchtlinge versuchen werden, die EU über die Türkei zu erreichen, weil Zehntausende vor den Kämpfen in der syrischen Aleppo Provinz fliehen.

"Europa kann der Türkei Geld geben, aber auch 100 Milliarden Dollar werden das hier nicht stoppen", sagt Necep Uz, Besitzer einer Pension in der Küstenstadt Cesme in der Nähe Izmirs. Flüchtlinge halten sich in Cesme auf, bevor sie zur griechischen Insel Chios aufbrechen.

"Diese Menschen fliehen vor Kriegen und es werden immer weiter welche kommen, bis die Kriege aufhören", sagt Uz und betont seine Worte mit ausgestrecktem Zeigefinger. "Denk an meine Worte, wenn du in zwei Jahren wiederkommst und sich nichts geändert hat."

"Keine große Mafia"

Nachdem sie Schmuggler in Izmir für die Überfahrt bezahlt haben, werden die Flüchtlinge in Küstenorte im Norden, nahe der Stadt Ayvalik, gebracht, von wo aus die Boote nach Lesbos fahren. Andere kommen nach Cesme weiter östlich, wo hunderte Menschen in Hotels auf bessere Wetterbedingungen warten, um die Ägäis zu überqueren.

Wenn die See rau ist, dann ist das Hotel von Uz in Cesme gut gefüllt. Er verlangt zehn Dollar pro Person oder sechzig Dollar pro Familie, aber er sagt, dass er oft auch Gäste umsonst übernachten lässt, die es sich nicht leisten können.

"Was soll ich denn machen?", sagt er. "Eine Mutter mit drei Kindern draußen schlafen lassen?"

Während in seiner Straße afghanische Kinder Fußball spielen, erzählt Uz, dass die lokale Polizei ihn schon mehrfach festgenommen hat und damit drohte, sein Hotel zuzumachen, wenn er weiterhin Menschen Unterschlupf bietet, die nach Griechenland fahren.

"Wenn sie mich ins Gefängnis schicken wollen, schicken sie mich ins Gefängnis", so der Hotelier. "Aber ich weiß, dass ich nichts Falsches tue. Es sind die Schlepper, die die Menschen herbringen. Die Polizei sagt, dass das große Kartelle sind, aber es sind Gruppen von Menschen - keine großen Mafia-Organisationen."

Bloß nicht zurück ins Herkunftsland

Alo, ein 25-jähriger Iraner, der sich sein Geld verdiente, indem er Häuser anstrich, lebt seit zwei Tagen in einem Zimmer in der Pension. Er hat einem Schlepper 1000 Dollar für einen Platz auf einem kleinen Schlauchboot bezahlt und wartet darauf, dass der Wind dreht, damit er nach Europa fahren kann. Während seiner Wartezeit in Cesme hat er gefälschte afghanische Dokumente für 100 Dollar gekauft, damit er die Grenzkontrollen auf dem Balkan passieren kann, die nur Flüchtlinge aus Kriegsgebieten durchlassen.

Auf die Frage, warum er den Iran verlassen hat, hebt Ali sein Shirt hoch und zeigt die Narben, die er von Hunderten Peitschenhieben davongetragen hat - als Strafe, weil er beim Trinken von Alkohol erwischt wurde.

"Ich möchte nach Deutschland oder Dänemark oder notfalls in ein europäisches Gefängnis gehen", sagt er. "Überallhin, nur nicht Iran."

Als sie das "German Holiday Village" verlassen mussten, haben Flüchtlinge einen Topf voll Essen zurückgelassenBild: DW/D. Cupolo

Bis die Polizei das Gebiet im vergangenen Monat geräumt hat, hielten sich Flüchtlinge, die nach Chios wollten, in einem verlassenen Apartmentkomplex vor den Toren von Cesme auf, dem "German Holiday Village". Jetzt müssen sie für ein Dach über dem Kopf bezahlen, aber Freiwillige einer lokalen Gruppe helfen mit Essen, Kleidung und ab und zu sogar medizinischer Hilfe, die sie den Flüchtlingen kostenlos zur Verfügung stellen.

Ali Yalvacli, der Direktor der Hilfsorganisation aus Cesme, sagt, seine Gruppe versuche die Leute davon abzuhalten, den gefährlichen Weg nach Chios einzuschlagen.

"Es ist schwierig, sie davon zu überzeugen, hier zu bleiben", erzählt Yalvacli. "Es geht ja nicht nur ums Bleiben - das Problem ist, Arbeit zu finden und sich ein Leben in der Türkei aufzubauen. Was würden sie hier machen?"

Zurück auf dem Basmane-Platz in Izmir: Eine Gruppe, hauptsächlich Frauen und Kinder, sitzt an einem Wochenendabend an einer Straßenecke, umringt von ihren Taschen. Gegenüber parkt ein Polizeiwagen. Die Beamten sehen zu, wie drei Wagen vorfahren und sich alle mit ihrem Gepäck hineinquetschen.

In einem Café in der Nähe unterhalten sich zwei Männer auf Arabisch.

"Wann fahren wir heute Abend los?" fragt einer.

"Ein Uhr", antwortet der andere.

"Wie viele haben wir?"

"Vier."

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