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PolitikEuropa

Jüdische Flüchtlinge in Czernowitz: "Zukunft ist heute"

5. März 2023

Im ukrainischen Czernowitz, einst das "Jerusalem des Ostens", lebten bis vor Kurzem kaum noch Juden. Nun verschaffen Geflüchtete aus anderen Landesteilen den jüdischen Gemeinden neuen Zulauf.

Reportage über jüdisches Leben in Czernowitz in der Ukraine
Oleg Krassnyj (l.) und Viktorija Maksymowytsch (r.) mit ihrem Sohn in CzernowitzBild: Keno Verseck/DW

Viktorija Maksymowytsch hat frischen Tee aufgebrüht und Kuchen auf den Tisch gestellt. Aber wenn sie und ihr Mann, Oleg Krassnyj, vom Krieg in der Ukraine, von ihrer Flucht und ihrem Exil im eigenen Land sprechen, dann mag man nichts Süßes anrühren. Worte, die in ihrer Erzählung oft vorkommen, sind: Bomben, Zerstörung, Schrecken. Sie sitzen in der Küche der kleinen Wohnung, in der sie untergekommen sind. In der Ecke steht ein Stromgenerator, der mit Benzin betrieben wird. Gerade muss er nicht laufen, denn es gibt Strom.

Die jüdisch-ukrainischen Eheleute stammen aus Charkiw im Nordosten der Ukraine, der zweitgrößten Stadt des Landes. Wie Millionen Ukrainer haben sie nach Kriegsbeginn fast alles verloren - ihre Arbeit, fast ihr gesamtes Vermögen, ihren Alltag, ihr bisheriges Leben. Zum Glück noch keine engeren Familienangehörigen und geliebten Menschen. Im Frühjahr 2022 strandeten sie zusammen mit ihrem 15-jährigen Sohn in Czernowitz in der Westukraine, in der einst wohl jüdischsten Großstadt des Landes, die als "Jerusalem des Ostens" galt.

Die Kobyljanska-Straße im Zentrum von CzernowitzBild: Keno Verseck/DW

Sie berichten von ihrem früheren Leben, von den Kriegstagen in Charkiw, von ihrer Flucht sprunghaft, manchmal atemlos und so, als hätten sie eine Schlinge um den Hals. Es ist eine Kriegstragödie wie die von Millionen Anderen in der Ukraine. Zugleich aber auch eine spezielle - weil es um jüdische Menschen geht, in deren Ohren die russische Propaganda von der "faschistischen Ukraine" und ihrer "Entnazifizierung" besonders absurd und zynisch klingt.

"Alles außer Atombomben"

Viktorija Maksymowytsch, 37, und ihr Mann Oleg Krassnyj, 45, sind beide in Charkiw geboren, Krassnyj hat einige Jahre in Israel gelebt. Viktorija ist gelernte Ökonomin, Oleg Juwelier, sie sind beide gläubige, nicht-orthodoxe Juden. Sie fühlen sich als ukrainische Menschen, sie können Ukrainisch, aber ihre Muttersprache ist Russisch, so wie die der meisten Menschen in Charkiw. Vor dem Krieg wohnten sie in einem Mittelklasse-Viertel im Norden der Stadt und betrieben zusammen ein gut gehendes Imbiss-Café mit mehreren Angestellten. Sie führten ein unbeschwertes Leben.

Am frühen Morgen des 24. Februar 2022, dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, wachten sie von Granaten- und Bombeneinschlägen auf. "Es war schrecklich. Die Explosionen waren nahe an unserem Wohnblock, nur ein paar hundert Meter entfernt", erzählt Viktorija. Ihr Mann Oleg sagt, sie beide hätten es niemals für möglich gehalten, dass Russland die Ukraine angreift.

Zerstörungen in Charkiw durch russische BombenangriffeBild: Pavel Dorogoi

Hastig packten sie ein paar Sachen und fuhren mit dem Auto in die Innenstadt von Charkiw, zur Wohnung von Viktorijas Bruder. Sie glaubten, sie seien dort geschützter als in den nördlichen Außenbezirken der Stadt. Tage später wurde das Gebäude, in dem sich ihr Imbiss-Café befand, zerstört. Ihr Wohnblock trug Schäden davon, steht aber bis heute noch. "Auf Charkiw ist alles niedergegangen, was es gibt, alle Arten von Raketen, Granaten und Geschossen, alles außer Atombomben", sagt Viktorija. "Wahrscheinlich haben sie es deshalb gemacht, weil Charkiw eine patriotische Stadt ist und sich nicht ergeben wollte."

Flucht aus dem Inferno

Die beiden Eheleute erzählen von Nächten in Metrostationen, von stundenlangem Schlangestehen nach Lebensmitteln, von Explosionen, die sie irgendwann nicht mehr schreckten, weil sie lernten, anhand der Geräusche die Gefährlichkeit und die Entfernungen abzuschätzen. Aus ihren Stimmen spürt man den Unglauben, dass all das überhaupt passiert ist.

Oleg Krassnyj und Viktorija Maksymowytsch vor ihrer Wohnung in CzernowitzBild: Keno Verseck/DW

Nach drei Wochen Krieg entschied sich die Familie zur Flucht. Nach anderthalb Tagen Fahrt in ihrem Wagen erreichten die Eheleute und ihr Sohn Czernowitz. Sie wandten sich an die dortige Aviv-Gemeinde. Die hatte für die ersten Monate ein ganzes Hotel gemietet, um jüdischen Flüchtlingen aus anderen Landesteilen zu helfen. Anfangs kamen Viktorija, Oleg und ihr Sohn dort unter, später konnten sie durch Glück die Zwei-Zimmer-Wohnung mieten, in der sie nun wohnen.

"Den meisten gefällt Czernowitz"

Czernowitz, heute 260.000 Einwohner, 40 Kilometer von der rumänischen Grenze entfernt, war lange Zeit ein bedeutendes Zentrum jüdischer Kultur in Europa. Als Hauptstadt der historischen Region Bukowina gehörte Czernowitz einst zum Habsburgerreich, zwischen den beiden Weltkriegen war das Gebiet Teil Rumäniens. In der Stadt lebten mehrheitlich jiddisch- und deutschsprachige Juden, Dichterinnen und Dichter wie Rose Ausländer und Paul Celan stammen von hier. Aber auch Rumänen, Ukrainer, Deutsche, Polen und andere Nationalitäten prägten die Stadt stark. Der Holocaust vernichtete die jüdische Bevölkerung und den jüdischen Charakter der Stadt großenteils. Die meisten Überlebenden und ihre Familien wanderten in der Sowjetzeit und nach dem Zerfall der UdSSR nach Israel aus. Heute kennt niemand die genaue Zahl der Juden in der Stadt, doch bis vor Russlands Krieg gegen die Ukraine dürften es wohl nur noch wenige hundert gewesen sein.

Das "Jüdische Haus" auf dem Theaterplatz in Czernowitz, rechts daneben auf einer Tafel Fotos mit gefallenen Soldaten aus dem BezirkBild: Keno Verseck/DW

"Irgendwann nach der Jahrtausendwende gab es noch 2000 Juden, die aktive Gläubige waren", sagt Lew Klejman, der Vorsitzende der Aviv-Gemeinde, die nur eine von mehreren jüdischen Gemeinden in der Stadt ist. "Viele gingen später weg. Es kann sein, dass es jetzt wieder 2000 Juden sind, denn wir haben sehr viele Flüchtlinge aus Kiew, Charkiw und Odessa. In unserer Gemeinde sind zurzeit vielleicht um die 200 Mitglieder, fast doppelt so viel wie vor dem Krieg."

Den meisten gefalle Czernowitz, weil es eine ruhige, schöne, nicht allzu große Stadt sei, sagt Klejman; zudem bringe der Umstand, dass in Czernowitz traditionell viele Angehörige unterschiedlicher Volksgruppen gelebt hätten, mit sich, dass mehr Russisch gesprochen werde als anderswo in der Westukraine. "Deshalb fühlen sich russischsprachige Juden aus dem Osten und Süden der Ukraine hier wohl."

"Faschismus? Das ist absurd."

Klejman, 37, gebürtiger Czernowitzer und hauptberuflich Marketing-Experte, ist ein freundlicher, offener Mann. Er sieht seine persönliche Zukunft und auch die seiner Familie in Czernowitz. Die Stadt habe bisher Glück gehabt, sagt Klejman, weil sie von Bombenangriffen verschont geblieben sei - wohl, weil es keinerlei militärische und andere wichtige Infrastruktur gebe, die Russland vernichten wolle, und wohl auch wegen der Nähe zu Rumänien und damit zu einem NATO-Land.

Lew Klejman, Vorsitzender der Czernowitzer Jüdischen Gemeinde AvivBild: Keno Verseck/DW

Klejman betont auch, dass es in der Stadt keine Streitigkeiten zwischen den verschiedenen jüdischen Gemeinden gebe - man helfe sich gegenseitig vor allem bei der Versorgung von Flüchtlingen. Bei der Frage nach ukrainischen Nazis schüttelt Klejman nur den Kopf. "Was in Russland über die Naziherrschaft in der Ukraine behauptet wird, ist völlig absurd", sagt er. "Wir haben in Wolodymyr Selenskyj einen jüdischen Staatspräsidenten, okay, er geht nicht in die Synagoge, dennoch. Und hier in Czernowitz kann man absolut frei und ohne jegliche Probleme mit der Kippa auf die Straße gehen. Niemand schaut dich deswegen auch nur an. Wie kann man da über Faschismus sprechen?!"

Vergangenheit vernichtet

Als das Gespräch auf die Zukunft der jüdischen Gemeinde kommt, macht Klejman eine lange Pause. Dann zitiert er ein geflügeltes Wort: "Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, erzähl ihm etwas über deine Pläne." Länger als ein, zwei Wochen, sagt er, könne man zurzeit gar nichts planen in der Ukraine. "Über das, was morgen sein wird, denken wir morgen nach", sagt Klejman lachend.

Synagoge in CzernowitzBild: Keno Verseck/DW

Auch Viktorija Maksymowytsch und Oleg Krassnyj wissen nicht, wie es für sie weitergeht. Arbeit haben sie in Czernowitz bisher beide nicht gefunden. Sie leben von ihren Ersparnissen. Viktorija hat im Sommer 2022 mehrere Monate als Freiwillige in Rumänien gearbeitet und Flüchtlingen aus der Ukraine geholfen. Die Eheleute verbringen viel Zeit in der jüdischen Gemeinde, am Schabbat, zu Feiertagen, beim gemeinsamen Kochen, Musizieren oder bei Gesprächsrunden über die jüdische Religion. "Die Gemeinde und ihre Mitglieder sind unsere neue Familie", sagen Viktorija und Oleg. "Sie sind wie Verwandte, die wir sehr, sehr lange nicht gesehen haben, die uns jetzt aber aufnehmen. Das ist auch eine sehr große psychologische Hilfe."

Der Kuchen steht immer noch auf dem Tisch wie zu Beginn des Gesprächs. Viktorija und Oleg lachen nicht, sie wirken auch nicht verbittert, sie lächeln nur manchmal traurig. Irgendwann sagt Viktorija: "Dieser Krieg erinnert uns auch daran, dass man von einem auf den anderen Tag alles verlieren kann. Wie wenig es lohnt, materiellen Dingen hinterher zu rennen. Wie wichtig Familie, Freunde und das Leben sind. Das Schlimme ist: Russland hat unsere Vergangenheit vernichtet. Auch eine Zukunft haben wir nicht. Zukunft ist für uns der heutige Tag."