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Politik

Juden - "In Deutschland zu Hause"

20. Dezember 2019

Nach drei Jahren treffen sich Juden und Jüdinnen wieder zum "Jüdischen Gemeindetag" in Deutschland. Ein familiäres Treffen mit politischem Ernst und den vielen Seiten des jüdischen Lebens in Deutschland.

Gemeindetag des Zentralrats der Juden in Deutschland
Sprach klare Worte: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf dem Jüdischen GemeindetagBild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Larysa Goryachkina hält es nicht mehr an ihrem Platz. Dichtes Gedränge im Saal Potsdam des Berliner Hotels Interconti. Gerade ging Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier als Gast des Jüdischen Gemeindetages 2019 durch die Reihen zu seinem Tisch - und überall nur Fotografen, Sicherheitsleute, Schaulustige. Da steht die 77-jährige Goryachkina, Mitglied der Jüdischen Gemeinde Magdeburg, auf, nimmt ihre jüngere Verwandte an die Hand und zieht sie ins Gedränge. Sie will, das sagt sie noch, dem Staatsoberhaupt die Hand schütteln.

Nach drei Jahren hat der Zentralrat der Juden in Deutschland als Dachorganisation wieder zum Jüdischen Gemeindetag geladen. Im Dezember 2016 stand das mehrtägige Treffen in Deutschland unter dem Motto "Ein Dach, eine Familie" und betonte die Zusammengehörigkeit untereinander. Und nun, in Zeiten des wachsenden Antisemitismus, der Verunsicherung, gut zwei Monate nach dem Terrorangriff auf die vollbesetzte Synagoge in Halle lautet das Motto "In Deutschland zu Hause". Ein Titel ohne Fragezeichen, ein großes Wort in diesen Zeiten.

Verhinderte ein Blutbad: die schwere Holztür der Synagoge in Halle an der SaaleBild: Getty Images/J. Schlueter

Kinderwagen und Kippa

Gemeindetag - das ist ein großes "Come-Together" von rund tausend Jüdinnen und Juden aus den meisten der über 100 jüdischen Gemeinden in Deutschland mit insgesamt rund 100.000 Mitgliedern. Es ist ein überraschend junges Publikum. Man sieht mehr Kinderwägen als Rollstühle oder Gehhilfen. Man sieht Männer mit Kippa, mit dem typischen schwarzen Hut der Orthodoxen oder ohne Kopfbedeckung. Man sieht Frauen sehr modisch oder auch konservativ gekleidet. Vieles wirkt wie ein großes Familientreffen. Und für die jüngere Generation dienen die vier Tage zwischen Politik und Abendunterhaltung gewiss auch der Kontaktaufnahme und dem Anbändeln.

Gewiss, um Politik und Sicherheit der Gemeinden geht es bis Sonntag immer wieder. Nach dem Bundespräsidenten zum Auftakt kommt am Freitag Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zur Unterzeichnung eines Staatsvertrages mit dem Zentralrat über künftige jüdische Militärseelsorge in der Bundeswehr. Er gehe, meint dessen Geschäftsführer Daniel Botmann, mit dem Begriff "historisch" zurückhaltend um, aber dieser Schritt sei historisch für die jüdische Gemeinschaft. Später wird Grünen-Chef Robert Habeck erwartet, auch der Alt-Grüne Joschka Fischer und Politiker von Union, SPD und FDP. Wissenschaftler, Vertreter der Kulturszene und aus den Medien. Das Spektrum ist breit. Es gibt Comic-Wände und Infostände. Am Eröffnungstag drehen sich die Gespräche auch um Bildung in der Schule oder die Zukunft des Jüdischen Museums Berlin. Allesamt Aspekte der Heimat Deutschland.

Nicht immer einfach: jüdisches Leben in Deutschland (Symbolbild)Bild: picture-alliance/dpa/F. Rumpenhorst

Die Koffer

Denn "In Deutschland zu Hause" - dieses Leitwort kehrt immer wieder am Eröffnungstag. "Die jüdischen Gemeinden fühlen sich in Deutschland zuhause. Davon werden uns auch Waffen oder Bomben nicht abbringen", sagt Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, vor Beginn der Veranstaltung. Einige Minuten später nimmt er die Redewendung früherer Jahrzehnte, Juden in Deutschland säßen auf gepackten Koffern, auf. "Die Koffer sind weiterhin ausgepackt. Aber der ein oder andere guckt schon, wo er seinen Koffer hingestellt hat…"

Auch Israels Botschafter in Deutschland, Jeremy Issacharoff, greift den Gedanken auf, als er an den Terror von Halle am 9. Oktober erinnert, bei dem ein Rechtsextremist zwei Menschen tötete und nur die massive Tür der Synagoge ein Blutbad verhinderte. "Nach dem Terroranschlag wurde ich gefragt, ob die Zeit für Juden gekommen sei, Deutschland zu verlassen. Meine Antwort lautete, dass die Zeit gekommen ist, das jüdische Leben in Deutschland noch mehr zu stärken und voranzubringen."

"Was wir brauchen, ist ein gesellschaftlicher Klimawandel": Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der JudenBild: picture-alliance/dpa/B. von Jutrczenka

Steinmeier über die Republik

Bundespräsident Steinmeier nennt das "In Deutschland zu Hause" ein "Bekenntnis". Mit dem hebräischen Wort "Likrat, aufeinander zugehen" beginnt er seine Rede und betont seinen Wunsch nach einem aufeinander zugehen von Juden und Nichtjuden im Land. "Ich freue mich sehr, heute Abend bei Ihnen zu sein. Und ich bin der Überzeugung: Es ist die richtige Zeit, um hier zu sein." Dabei schaut Steinmeier auf die schwieriger werdende Situation vieler Juden in Deutschland: die steigende Zahl an Übergriffen, Pöbeleien, Beschimpfungen. Er würdigt das Vertrauen gerade jener, die in den vergangenen 30 Jahren aus Osteuropa nach Deutschland und in die jüdischen Gemeinden kamen. "Ich weiß, dass Ihr Vertrauen fragil geworden ist."

Steinmeier wird grundsätzlich. "Diese Republik ist nur dann vollkommen bei sich, wenn Juden hier vollkommen sicher sind. Dieses Land ist für uns alle nur dann ein Zuhause, wenn Juden sich hier zuhause fühlen." Als Bundespräsident müsse er nach Halle feststellen: "Wenn Jüdinnen und Juden in dieser Weise angegriffen werden, dann ist diese Republik nicht vollkommen bei sich. Dann ist sie in ihrem Herzen angegriffen. Auch die Mehrheit muss endlich verstehen: Dieses Land bleibt nicht dasselbe, wenn das Recht und die Würde von Minderheiten bedroht wird. Jeder Angriff auf Sie ist ein Angriff aus unsere gesamte Gesellschaft." Denn Antisemitismus stelle die Grundlagen des Gemeinwesens in Frage. Er pocht auf den Schutz jüdischer Einrichtungen durch den Staat "ohne Wenn und Aber".

Ein Händedruck, ein Foto

Und der Bundespräsident spricht vom "ideologischen Gift" im Bund mit Nationalismus und Rassismus. Antisemitische Äußerungen seien aber "kein Bürgerrecht", sie fielen auch nicht unter das Recht auf freie Meinungsäußerung. "Antisemitismus ist keine Meinung, er ist ein Ressentiment". Ausdrücklich führt er die Begriffe "Vogelschiss", "Schlussstrich" und "Schuldkult" an, die zum Sprachschatz der rechtspopulistischen AfD und rechtsextremer Kreise zählen. "Diesem Hass und diesem Ressentiment müssen alle widersprechen."

Bewertete die NS-Zeit als "Vogelschiss" in der deutschen Geschichte: Alexander Gauland von der AfDBild: picture-alliance/dpa/H.-K. Dittrich

Die Rede Steinmeiers, der sich vor seinem öffentlichen Auftritt hinter verschlossenen Türen eine knappe Stunde mit jungen Teilnehmern des Gemeindetages austauschte, wird immer wieder von Applaus unterbrochen. Auch Larysa Goryachkina, die alte Dame aus Magdeburg, die 2001 aus dem ukrainischen Dnepropetrovsk nach Deutschland kam, klatscht munter. Sie schätze Steinmeier so, "weil er die Wahrheit spricht, weil er immer für eine gute Außenpolitik steht", sagt sie auf Ukrainisch, dann auch langsam auf Deutsch.

Ach ja, die alte Dame hat ihr Ziel erreicht. Im Gedränge schaffte sie es zu Steinmeier - und sie gaben einander die Hand. Und ein Foto bekommt sie wohl auch. Larysa Goryachkina und ihr Bundespräsident.