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Politik

An der Grenze verliert Europa seine Seele

6. März 2020

Wo sind die Menschenrechte, wenn sie gebraucht werden? An der griechisch-türkischen Grenze sind schreiende Frauen, Männer und Kinder offenbar nicht Mensch genug, meint unser Kolumnist Jaafar Abdul Karim.

Zitattafel Jaafar Abdul-Karim Europa Menschenrechte

Hier, an der griechisch-türkischen Grenze, verliere ich seit Tagen den Glauben an Europa. Was ist aus den edlen Werten geworden, für die Europa und wir als seine Bürgerinnen und Bürger stehen? Die Würde des Menschen ist unantastbar - dieser Satz ist meine deutsche und europäische Leitkultur. Egal welche Hautfarbe, Religion, sexuelle Orientierung und Identität, Ethnie – wir alle sind gleichberechtigt im deutschen Grundgesetz. Doch hier, im kleinen Grenzort Kastanies, verliere ich meinen Glauben an all das, was ich auf meinen Reisen in die arabische Welt erzähle: dass man Europa und Deutschland, meiner Wahlheimat, vieles vorwerfen kann – aber dass hier zumindest die Menschenrechte eingehalten werden.

Ich bin enttäuscht. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde, hier ist sie nicht vorhanden. Hier, an seiner südöstlichen Außengrenze, fängt Europa an seine Seele zu verlieren.

Tränengas gegen Kinder und Mütter

Die griechischen Sicherheitskräfte setzen Tränengas ein, wo Kinder und Säuglinge mit ihren Müttern ausharren. Geflüchtete erzählen, dass sie beim Grenzübergang von griechischen Sicherheitskräften geschlagen und zurück in die Türkei geschickt wurden. Die schreienden Frauen, Männer und Kinder an der Grenze sind für uns offenbar nicht Mensch genug, als dass für sie die Menschenrechte gelten sollten.

Am Grenzfluss Evros schießt die griechische Polizei mit Tränengas-GranatenBild: picture-alliance/AP Photo/G. Papaniko

Wir dürfen Unmenschliches nicht zur Gewohnheit werden lassen. Wenn die Geflüchteten die Grenze der EU nicht überschreiten dürfen, dann überschreiten wir die Grenze der Menschlichkeit. Zusammenhalt, Toleranz und Solidarität gegenüber Menschen, die alles verloren haben - was sind diese europäischen Grundwerte noch wert, wenn wir an der Grenze selektieren, wer menschenrechtswürdig ist und wer nicht? Menschenrechte sind nicht selektiv. Sie sollen Menschen, die schwach und in Not sind, vor der Willkür schützen. Und zwar vor der Willkür aller Seiten.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan instrumentalisiert die Flüchtlinge für seine eigenen Interessen. Von ihm als Nicht-Demokrat habe ich nichts anderes erwartet. Aber was ist mit der EU, die 2012 den Friedensnobelpreis für ihren Einsatz für die Menschenrechte bekommen hat? Was tut die EU? Die 27 Mitgliedstaaten wollen eine Note an die Türkei senden - Flüchtlinge seien nicht als Druckmittel zu missbrauchen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen lobte den griechischen Premier Kyriakos Mitsotakis und bezeichnete Griechenland als Schutzschild Europas.

Bedrohung für Europa?

Wenn ich hier an der Grenze stehe, sehe ich keine Bedrohung für Europa. Ich sehe verzweifelte, durchgefrorene, arme, hungrige und notleidende Menschen, die ihre Heimatländer auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen haben. Keine Menschen, vor denen wir uns schützen müssen, sondern Menschen, die wir schützen müssen.

Auf der griechischen Seite der Grenze wartet die PolizeiBild: Getty Images/AFP/S. Mitrolidis

In Griechenland wurde das Asylrecht ausgesetzt: Einen Monat lang sollen keine Anträge angenommen werden. Eine rechtliche Basis gibt es dafür nicht, kritisierte auch die UN. Trotzdem wollen die Griechen daran festhalten. Eigentlich sind die EU-Mitglieder doch Rechtsstaaten, in Europa herrscht doch das Gesetz, dachte ich. Das alles macht mich sprachlos. Das Asylrecht ist ein Menschenrecht!

Zumindest müssen die Menschen einen Asylantrag stellen können. Die rechtliche Prüfung des Asylverfahrens entscheidet, ob ihr Antrag genehmigt wird oder nicht. Dieses Recht einfach so auszusetzen, ohne jegliche rechtliche Grundlage, ist für mich eindeutig ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Genau das hätte nicht passieren dürfen, vor allem nachdem Rechtsradikale auf Lesbos NGO-Mitarbeiter und Journalisten angegriffen haben. Welche Bestätigung schicken wir damit an die Rechten in Europa! Diese Politik der Ausgrenzung, der selektiven Priorisierung anhand von Herkunft, Religion oder Hautfarbe, ist menschenverachtend. Was unterscheidet uns in der Migrationspolitik jetzt noch von den Rechten in Europa? Was unterscheidet uns von Alice Weidel, Björn Höcke und Viktor Orbán?

Niemand verlässt sein Zuhause ohne Not

Niemand verlässt sein Zuhause ohne Not. Niemand verlässt sein Zuhause, wenn er dort ein Auskommen findet, wenn er sich sicher fühlt, wenn Frieden herrscht, wenn seine Kinder zur Schule gehen können. Wie können diese paar Tausend Menschen an der EU-Außengrenze uns Europäer all unsere Werte vergessen lassen?

Bild: picture-alliance/dpa/Xinhua/D. Tosidis

Der Bundestag lehnt sogar die Aufnahme von 5.000 Flüchtlingen aus Griechenland ab. Die Grünen wollten, dass Deutschland 5.000 unbegleitete Kinder, Schwangere, allein reisende Frauen oder schwer Traumatisierte aus den griechischen Flüchtlingslagern aufnimmt. Diese Menschen könnten wir sein. Warum lassen wir diese Menschen, die in Not sind, allein?

Die EU steckt den Kopf in den Sand

Humanitäre Hilfe sofort, Kontrollen und Identitätsprüfungen der Gestrandeten, Prüfung der Schutzbedürftigkeit - das wäre jetzt der richtige Weg. Stattdessen stecken 26-EU-Politiker den Kopf in den Sand und schieben Griechenland 700 Millionen Euro Soforthilfe zur Grenzsicherung zu. Der Preis: ein täglich wachsendes Elendslager vor den Toren unseres Kontinents, kranke und traumatisierte Kinder, Frauen, Menschen.

Wo sind die Menschenrechte in Europa, wenn sie gebraucht werden? Ich will den Glauben daran nicht verlieren. Ich will weiterhin in die arabische Welt reisen und erzählen, dass Europa für Menschenrechte steht!

Jaafar Abdul Karim, 38, ist Redaktionsleiter und Moderator der arabischsprachigen Jugendsendung "Jaafar Talk" der Deutschen Welle. Das Format erreicht mit seinen gesellschaftskritischen Themen ein Millionenpublikum in Nordafrika, Nahost und der Golfregion. Geboren wurde Jaafar Abdul Karim in Liberia, seine Eltern stammen aus dem Libanon. Dort sowie in der Schweiz wuchs er auf, studiert hat er in Dresden, Lyon, London und Berlin, wo er heute lebt. Seine Kolumne heißt "Jaafar, shu fi?", arabisch für: "Jaafar, was geht?"

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