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Jaafars Integrationspyramide

Jaafar AbdulKarim19. Oktober 2015

Die Bundeskanzlerin hat einen Integrationsplan für Flüchtlinge, doch niemand kennt ihn. Unser Kolumnist macht Angela Merkel einen Vorschlag, mit dem die große Aufgabe gelingen kann.

Jaafars Integrationspyramide

Derzeit wird die Bundeskanzlerin von allen Seiten attackiert. Ihre Umfragewerte sinken. Sie bleibt aber weiter von sich überzeugt: Wir schaffen das! "Ich habe einen Plan", sagte sie im Interview bei Anne Will. Wie dieser Plan konkret aussieht, das weiß bis jetzt nur sie. Deshalb schlage ich einen Plan vor, obwohl ich noch kein Bundeskanzler bin. Ich glaube auch daran, dass wir es schaffen können.

Liebe Frau Merkel,

die neue Willkommenskultur in Deutschland ist super! Jetzt kommt es aber darauf an, daraus Politik zu machen. Viele haben Panik, aber so schwierig ist das mit der Integration nun auch wieder nicht. Aus meiner Sicht ist die Herausforderung zu meistern, mit einer Bedürfnispyramide nämlich. Ich nenne sie "Jaafars Integrationspyramide" und sie hat fünf Stufen:

Sicherheit - Akzeptanz - Vertrauen - Freiheit - Heimat

Diese Bedürfnisse müssen erfüllt werden, eine Stufe nach der anderen. Unsere Aufgabe besteht darin, die höchste Stufe zu erreichen - und zwar gemeinsam. Das heißt, Flüchtlinge und Einheimische zusammen. Erst dann wird die Integration funktionieren.

Wichtig ist das nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für die deutsche Gesellschaft, auf die Sie auch Rücksicht nehmen müssen. Vor allem auf die Skeptiker, deren Zahl steigt.

Sicherheit

Wer als Flüchtling nach Deutschland kommt, ist völlig verunsichert. Die Menschen sind traumatisiert von den Erlebnissen in ihren Heimatländern und von der Flucht. Jetzt sind sie hier, ganz ohne Sprachkenntnisse, in einer total fremden Welt!

Die ersten Begegnungen mit dieser neuen Welt hatten die Flüchtlinge an deutschen Bahnhöfen, und diese Welt hieß sie mit großer Herzlichkeit willkommen. Doch danach folgt unweigerlich die Realität der deutschen Behörden. Wie sozial geht es dort zu? Ein freundlicher Beamter kann Wunder wirken, glauben Sie mir! Ich kann mich noch sehr gut an meine Stunden in der Ausländerbehörde erinnern. Ein Lächeln gab mir das Gefühl: "Cool, ich darf weiter hier bleiben!" Zwar war ich kein Flüchtling, denn ich kam zum Studieren und konnte schon Deutsch. Eigentlich hätte ich keine Angst haben müssen. Als Migrant hat man trotzdem das unschöne Gefühl, das eigene Leben läge in den Händen dieser Menschen.

Vor ein paar Tagen war ich beim Lageso, der Registrierungsstelle für Flüchtlinge in Berlin, und habe selbst erlebt, wie schlimm die Zustände dort sind, obwohl die Beamten ihr Bestes geben. Die Flüchtlinge dort sind wütend. Ein Kind lag am Boden und fror. Ein junger Mann kommt seit 20 Tagen täglich her und weiß nicht, wann er endlich dran kommt. Ich hätte nie gedacht, dass ich sowas je in Berlin erlebe. Am dringlichsten wäre daher ausreichendes Personal, damit die Beamten nicht total überfordert sind, nicht irgendwann, sondern jetzt!

Frau Merkel, Sie bewegen sich auf dünnem Eis, das jeder Zeit brechen kann. Ich mache mir Sorgen vor dem kommenden Winter. Wenn die Flüchtlinge dann noch immer nicht winterfest untergebracht sind, werden die schönen Selfies von Bildern mit frierenden Kindern abgelöst. Wenn diese Bilder erst durch die Medien gehen, werden alle noch unsicherer.

Und dann ist noch ein anderer Punkt wichtig, der sofort angegangen werden sollte. Je mehr wir aktiv den Neuankömmlingen Deutschland beibringen, umso sicherer werden diese sein. Deshalb sollten Deutsch- und Integrationskurse sofort nach der Ankunft verpflichtend sein. Die Flüchtlinge sitzen in ihren Sammelunterkünften und haben sehr viel Zeit, die genutzt werden sollte.

Akzeptanz

Egal, wie der einzelne dazu stehen mag, die vielen Flüchtlinge sind nun einmal hier und sie werden auch erst mal bleiben. Manchen Leuten gefällt das nicht, deshalb ist jetzt viel Aufklärungsarbeit gefragt. Das ist die Aufgabe der Politik.

Fakt ist: Deutschland ist groß und hat mehr als 80 Millionen Einwohner. Selbst wenn dieses Jahr 1,5 Millionen Flüchtlinge kommen, was nicht sicher ist, darf man die Größenordnung nicht aus den Augen verlieren: Sie macht nicht einmal zwei Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Hier von Überfremdung und Bedrohung der sogenannten deutschen Werte zu sprechen, grenzt an Hysterie. Es wird nicht eng in Deutschland, es ist immer noch genug Platz für alle da. Viele Dörfer und kleinere Städte, gerade in Ostdeutschland, leiden unter einem starken Bevölkerungsrückgang und brauchen dringend neue Einwohner, um die Infrastruktur aufrechtzuerhalten.

Jaafar Abdul Karim, Moderator von DW "ShababTalk"

Wenn Flüchtlinge außerdem die Möglichkeit bekommen, sich aktiv an der Produktivität Deutschlands zu beteiligen, dann zahlen sie Steuern und tragen zum allgemeinen Wohlstand bei. Und es entsteht nicht das Gefühl, sie nähmen den Einheimischen etwas weg. Dass viele Flüchtlinge monatelang nicht arbeiten dürfen, obwohl sie das unbedingt wollen, ist kontraproduktiv. Die entsprechenden Gesetze müssen verändert werden, sonst scheitert die Integration.

Liebe Frau Merkel, mangelt es an Akzeptanz, dann werden die Flüchtlinge schnell zu Sündenböcken gemacht werden. Dann wird nicht gesehen werden, dass es viele Probleme auch schon vor der Flüchtlingskrise gab. Ich höre immer wieder, dass es nicht genügend Kita-Plätze gibt. Daran sind nicht die Flüchtlinge schuld.

Stopp mal, sagen jetzt bestimmt einige. Was ist mit den IS-Kämpfern unter den Flüchtlingen? Sicherlich, die könnte es geben und statistisch gesehen steigt ihre Zahl wahrscheinlich auch, aber ihr Anteil an der Gesamtzahl der Flüchtlinge bleibt verschwindend gering. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass es das Problem auch schon vorher gab: Bereits in den vergangenen Jahren haben sich junge Muslime aus Deutschland dem "Islamischen Staat" angeschlossen und zum Leid der jetzt geflüchteten Menschen beigetragen. Die Ursachen für dieses Problem zu bekämpfen, ist eine riesige Aufgabe. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Flüchtlinge deswegen stigmatisiert werden, genauso wie wir vorher eine Stigmatisierung der Muslime mit Erfolg verhindert haben.

Aus meiner Sicht sind die neuen Mitbürger im permanenten Download-Modus, sie saugen auf, was sie sehen, was sie erleben. Ihre Verbindung zur Gesellschaft in Deutschland ist aber noch nicht gefestigt, ein bisschen so wie in einem instabilen Wlan-Netz. Wir müssen alle dafür sorgen, dass die Verbindung bestehen bleibt.

Vertrauen

Mit der Sicherheit und der Akzeptanz ist die Arbeit noch nicht erledigt. Es braucht auch gegenseitiges Vertrauen. Flüchtlinge und Migranten sind auch ein Teil der Gesellschaft und können eine Bereicherung für dieses Land sein. Dass es Beispiele gibt, wo es nicht klappt, ist mir klar. Aber die immer zu nennen, hilft bei der Problemlösung auch nicht weiter. Pauschalisierungen sind unfair - es sind ja auch nicht alle Deutschen Anhänger von "Pegida".

Vertrauen verbindet. Ohne Vertrauen scheitert Integration, die Flüchtlinge werden sich zurückziehen - so wie manche Migranten vor ihnen - und parallele Gesellschaften und Ghettos gründen, in denen jeder nur seine Leute sucht. Dann verabschieden sich die Flüchtlinge innerlich von Deutschland.

Wer könnte besser dabei helfen, dieses Vertrauen aufzubauen, als die bereits hier lebenden Migranten. Deshalb verdienen auch sie mehr Vertrauen! Sie kennen die Herkunftssprache und die Mentalität der Flüchtlinge und sind prädestinierte Brückenbauer. "Bei Selfies ist die Distanz etwas weniger als bei normalen Fotos. Das hat ein Selfie so an sich", haben Sie gesagt, liebe Frau Merkel. Ich sage: Bei Deutschen mit Migrationshintergrund ist die Distanz zu Flüchtlingen etwas geringer als bei gebürtigen Deutschen. Das hat ein "integrierter" Migrant so an sich.

Was auch wichtig ist: Die Flüchtlinge müssen Vertrauen in den deutschen Staat und das Rechtssystem entwickeln. Viele kennen keine unabhängige Justiz und haben eher schlechte Erfahrungen mit der Staatsmacht gemacht. Natürlich ist auch in Deutschland nicht alles gut. Aber Vertrauen muss die Angst vor "dem System" ablösen.

Freiheit

Sicherheit, Akzeptanz, Vertrauen sind entscheidende Faktoren. Doch der Mensch braucht mehr, um Mensch zu sein. Er braucht das Gefühl, frei zu sein. Er will die Frage beantworten: Wer bin ich? Was will ich?

Auch die Menschen, die wir jetzt noch Flüchtlinge nennen, werden sich diese Fragen stellen. Und es ist wichtig, dass die Antworten, die sie bekommen, nicht deshalb vorgegeben sind, weil sie aus einem anderen Land kommen.

Seine Rolle in der Gesellschaft selbst bestimmen können - das ist Freiheit. Sich deutsch zu fühlen, ist eine persönliche Einstellung und ist jedem selbst überlassen. Deutsche Gesetze, Werte und Regeln zu akzeptieren, ist ein Muss, natürlich. Aber damit ist die Frage der Identität nicht abschließend geklärt. Jeder Mensch trägt die Kultur, in der er aufgewachsen ist, sein Leben lang in sich. Jemand, der aus Syrien nach Deutschland kommt, wird nicht plötzlich aufhören, sich als Syrer zu fühlen.

Die deutsche Identität (was ist das überhaupt?) wird dadurch nicht verschwinden. Es gibt sowieso nicht DIE Identität, sondern immer nur einen Mix. Identität soll ein Freiraum sein, sich zu entfalten. Deshalb sollte niemand von der Politik dazu gezwungen werden, sich für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Im Sowohl-als-auch liegt die große Bereicherung. Jemanden zu einem Entweder-oder zu zwingen, tut seiner Persönlichkeit unrecht und verschwendet viel Potenzial.

Und dann ist da noch die Frage der Religion. Frau Merkel, Sie müssen dafür sorgen, dass die Flüchtlinge ihre Religion ausüben können, wenn sie dies wollen und sich dabei an das Grundgesetz halten. Religion ist eine Privatsache. Niemand soll sich wegen eines anderen Menschen verstellen müssen oder von Angst gesteuert sein. Keiner soll dem anderen vorschreiben, wie dieser zu sein hat oder wie er aussehen muss.

Heimat

Viele Flüchtlinge werden jahrelang nach einer neuen Heimat suchen. Ob in Gießen, Hamburg oder Rosenheim, sie werden sich zwischendurch fragen: In Deutschland bleiben oder zurückgehen, falls doch mal wieder Frieden herrscht in der alten Heimat? Das hat nichts damit zu tun, dass man sich hier nicht heimisch fühlt oder große Probleme mit dem Deutschsein hat. Sondern es ist dieses Gefühl, dass man sich Zeit seines Lebens hin- und hergerissen fühlen wird. Man wird sich einerseits nie 100 Prozent als Deutscher fühlen, andererseits auch im Herkunftsland nie wieder voll und ganz angenommen sein, weil man der war, der wegging. Also wird Heimat da sein, wo man lebt und liebt und sich verstanden fühlt. Auch ich kenne diese innere Zerrissenheit sehr gut. Ursprünglich wollte ich in Deutschland nur studieren, doch ohne es zu ahnen, ist das Land zu meiner Heimat geworden. Weil ich mich sicher und akzeptiert fühle und das Vertrauen meiner Mitmenschen habe. Ich fühle mich als ein Teil Deutschlands - und rocke Deutschland mit.

Wenn man sich in der Gesellschaft zu Hause fühlt, verträgt man auch mehr und fühlt sich bei einer schrägen Bemerkung nicht gleich infrage gestellt. Dafür braucht man Selbstbewusstsein und die Gewissheit dazuzugehören. Und sie wollen dazugehören, das weiß ich, auch wenn nicht jeder Genitiv oder Dativ sitzt. Auch wenn sie an manchen Traditionen festhalten, die den Deutschen fremd sind.

Ich schaue dieser Tage gerne die Fußballspiele der deutschen Nationalmannschaft. Ich finde die Mischung cool. Sie ist ist etwas, das unsere Gesellschaft ausmacht. Zudem macht der deutsche Fußball vor, wie Integration funktioniert. Damit können sich viele identifizieren. Eine super Sache. Und dazu sind wir Weltmeister! Also, liebe Frau Merkel und liebe deutsche Mitbürger: Wir können es schaffen!

Jaafar Abdul Karim, 33, ist Moderator und Verantwortlicher Redakteur der arabischsprachigen Jugendsendung "ShababTalk" der Deutschen Welle. Das Format erreicht mit seinen gesellschaftskritischen Themen ein Millionenpublikum in Nordafrika, Nahost und der Golfregion.

Geboren wurde Jaafar Abdul Karim in Liberia, seine Eltern stammen aus dem Libanon. Dort sowie in der Schweiz wuchs er auf, studiert hat er in Dresden, Lyon, London und Berlin, wo er heute lebt.

Seine Kolumne auf "Zeit Online" und dw.com heißt "Jaafar, shu fi?", arabisch für: "Jaafar, was geht?"

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