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Politik

Dehnel: Wir wollen zurück, aber in ein besseres Polen

Magdalena Gwozdz-Pallokat
20. Juli 2021

"Wenn die Mehrheit meiner Mitbürger denkt, dass man mir die Menschenrechte wegnehmen kann, dann packe ich meine Siebensachen und gehe weg”, so der polnische Schriftsteller, der mit seinem Mann in Berlin lebt.

Jacek Dehnel beim Interview mit DW
Jacek Dehnel ist aus Polen weggezogen und lebt in BerlinBild: DW

DW: Jacek Dehnel, sind Sie aus Polen weggefahren oder geflohen?

Jacek Dehnel: Ich bin mit meinem Mann nach Berlin gefahren für ein DAAD-Stipendium, doch es war kein Zufall. Vor 2015 hatte ich mich nie für so lange, einjährige Aufenthalte beworben. Schon beim Packen wussten wir, die Chancen, zurückzukommen, sind etwa 50 Prozent.

Nach dem, was während der Präsidentschaftskampagne passiert ist, haben wir festgestellt, dass Polen kein sicherer Ort für LGBT-Menschen ist.

Beziehen Sie sich auf die Worte des polnischen Staatsoberhaupts Andrzej Duda?

Nicht nur. Ich denke an die ganze gemeinsame Kampagne von PiS und der Kirche, die einen spürbaren Einfluss auf das Leben unserer Bekannten hatte. Wir erkannten, dass es gefährlich war, zu bleiben. Ich sehe keine Notwendigkeit, zu warten, bis mir jemand den Arm oder die Nase bricht oder mit einem Messer zusticht. Ich ziehe es vor, vor dem Schaden klug zu sein. Hinzu kam, was der Großteil der Gesellschaft tat.

Nämlich?

Sie hat einen Mann gewählt, der Hass als sein wichtigstes Wahlkampfinstrument eingesetzt hat. Ich könnte mir vorstellen, in einem Land mit einem schrecklichen Regime zu leben und dieses Regime gemeinsam mit anderen zu bekämpfen. Das ist die Erfahrung von vielen Menschen in verschiedenen Ländern, auch in Polen bis 1989. Entweder die Schurken oder wir! Wenn aber die Mehrheit der Gesellschaft diesen "Jaruzelski" (General Wojciech Jaruzelski, polnisches Staatsoberhaupt 1985-1990, hat das Kriegsrecht eingeführt, um die Demokratiebewegung und die freie Gewerkschaft Solidarność zu zerschlagen - Anm. d. Red.). demokratisch wählt, sorry, aber dann sage ich: nein. Wenn die Mehrheit meiner Mitbürger denkt, dass man mir die Menschenrechte wegnehmen kann, dann packe ich meine sieben Sachen und gehe.

Sind Ihre Freunde auch weggezogen?

Sehr viele.

Aus ähnlichen Gründen?

Ja. Entweder bereiten sie sich darauf vor, auszureisen, oder sie haben es bereits getan, einige sogar vor dem Präsidentschaftswahlkampf, denn das, was in Polen passiert, ist nicht neu. Die heftige Homophobie der regierenden PiS-Partei und der Kirche hält ja schon seit einigen Jahren an. Jetzt ist sie nur intensiver.

Jacek Dehnel (re.) im Interview mit DW und WP Bild: DW

Berlin - ein Asyl also... Stimmt es, dass LGBT-Menschen hier ein besseres Leben haben?

Erstens sind wir hier verheiratet, also ist auch unsere rechtliche Situation anders, zum Beispiel in Bezug auf die Steuern. Wenn man durch Berlin läuft, sieht man viele Regenbogenfahnen. Manche von ihnen sind klein und kleben an Fenstern, andere sind riesig und hängen vor Regierungsgebäuden. Alles im Geiste der Herzlichkeit, nicht im Zusammenhang mit einem Kampf um irgendetwas. Wenn in Polen jemand eine Regenbogenflagge schwenkt, dann deshalb, weil er kämpft.

Wie ist es mit dem Händehalten?

In Polen zeigen LGBT-Menschen einander in der Regel keine Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit. Und doch ist es ein völlig normales physiologisches und kulturelles Bedürfnis, etwas, das zur Sozialisierung heterosexueller Menschen standardmäßig dazugehört. Doch jede Person, die nicht heterosexuell ist, lernt sehr schnell, dass sie diese unschuldige Aktivität in Gefahr bringen kann. Das soll nicht heißen, dass es niemand tut, denn ich habe eine Veränderung zum Besseren festgestellt, aber selbst wir, die wir uns manchmal in der Öffentlichkeit unsere Zuneigung zeigten, hatten, wenn wir uns dafür entschieden, das Gefühl, wachsam bleiben zu müssen.

Und ihr habt es trotzdem getan?

Manchmal, aber diese einfache und liebevolle Geste verwandelt sich durch den ganzen Kontext sofort in eine Kampfhandlung. Man kann nicht einfach jemanden streicheln oder küssen, auch wenn es nichts Natürlicheres gibt als körperliche Nähe zwischen Menschen, die sich lieben. Das ist das Betreten des öffentlichen Raumes mit etwas, das als anstößig behandelt wird, auch wenn es das nicht ist. Während ich in Berlin, wenn ich meinen Mann küssen, umarmen oder seine Hand halten möchte, überhaupt nicht darüber nachdenke.

Es gab keine einzige homophobe Reaktion?

Kein Land ist frei von Homophobie oder Rassismus. Aber meine Erfahrung in Berlin unterscheidet sich radikal zum Beispiel von meinem Aufenthalt in Paris, wo wir innerhalb einer Woche mehrere homophobe Beschimpfungen erlebt haben. In Berlin ist es uns nur einmal passiert. Es waren polnische Arbeiter einer Baustelle, die uns anguckten und zueinander sagten: "Schau, Schwule". Es war nicht konfrontativ, sie wussten gar nicht, dass wir sie verstehen konnten, aber es ist eben passiert.

"Marsch der Gleichberechtigung" in Plock, Polen (10.08.2019)Bild: picture-alliance/zumapress/W. Dabkowsk

Sie sind Schriftsteller, Ihr Arbeitsmaterial ist die Sprache. Können Sie anhand vom Polnischen und Deutschen Unterschiede im Weltbild erkennen? Ludwig Wittgenstein, der vor hundert Jahren hier in Berlin studierte, sagte später: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt".

Die verworrene deutsche Grammatik zwingt einen bis zum Ende des Satzes abzuwarten, wenn man verstehen will, was der andere sagt. Und das wirkt sich auf die Diskussionskultur aus. Wenn wir Polnisch sprechen, können Sie mich unterbrechen, bevor ich meinen Satz beende, denn Sie wissen bereits, was ich sagen werde.

Jenseits der Sprache, was ärgert Sie an den Deutschen?

Zum Beispiel ihre Einstellung zum Raum. Die Deutschen wissen sich in öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu bewegen, sie laufen wie Panzer. Ich dachte, es wären die Polen, die unhöflich sind, aber die Art und Weise, wie man hier steht oder sitzt... Selbst bei jemandem schwach auf den Beinen mit einem riesigen Paket: wenn ein Deutscher da sein Bein hat, bewegt er es nicht. Es ist für mich auch überraschend, wie rückständig dieses Land in Bezug auf die Technologie ist. Es ist oft ein Problem, mit Karte zu zahlen. Und all die bürokratischen Probleme - zum Beispiel die Tatsache, dass Hotlines nicht auf Englisch laufen. In Polen rufen sie die Hotline an und es heißt immer "für Englisch drücken Sie die 2". Das gibt es hier nicht. Lustig ist auch die Besessenheit mit dem Datenschutz, dabei stehen doch überall Namen auf den Klingelschildern. An der Gegensprechanlage gibt es z. B. keine Nummer 6, sondern "Frau Müller". Das ist völlig unlogisch!

Wenn wir uns schon an das Polnische und das Deutsche rantasten, wie beurteilen Sie die deutsch-polnischen Beziehungen?

Es kommt zu biologisch bedingten Veränderungen. Die älteren Generationen verlassen uns. Das reale Leid des Zweiten Weltkriegs, das nach wie vor tiefste Problem in den deutsch-polnischen Beziehungen, ist nicht mein persönliches Leid und auch nicht das Leid meiner Eltern. Es ist der Schmerz meiner Großeltern, die nicht mehr leben, der aber in Sprache und Kultur natürlich vorhanden bleibt.

Wie konkret?

Als ich zum ersten Mal in Berlin war und eine Mehrfacheintrittskarte für ein Museum hatte, die nur zusammen mit einem Dokument gültig war, sagte der Herr am Eingang "Ausweis, bitte". Und dann lief mir ein kalter Schauer den Rücken herunter, obwohl sich diese Worte ja nicht auf meine Erfahrung oder die Erfahrung meiner Eltern bezogen. Ich bin auch kein Fan von Kriegsfilmen. Es ist einfach etwas, das ich geerbt habe, das aber in den kommenden Generationen verblassen wird. Wir werden einander mit völlig unterschiedlichen Dingen in Verbindung bringen.

Man sieht bekanntlich die Dinge aus der Ferne besser. Wenn Sie jetzt auf Polen schauen, sind Sie traurig, wütend oder sehnsüchtig…?

Ich bin sehnsüchtig. Aber wenn ich nach Polen komme, fallen mir sofort Dinge auf, die mich schon seit Jahrzehnten irritiert haben.

Und das sind die Dinge, die Sie davon abhalten, zurückzugehen? Oder wollen Sie das gar nicht?

Wir wollen zurück, aber in ein besseres Polen.

Jacek Dehnel (41) ist ein polnischer Schriftsteller, Übersetzer und Maler. Er lebt seit 2020 mit seinem Ehemann in Berlin. Das Paar hat 2018 in London geheiratet.

Das Gespräch führten Magdalena Gwozdz-Pallokat (DW) und Lukasz Dynowski (WP). Das Interview ist die gekürzte Übersetzung eines Gesprächs aus der Reihe "DIALOG. Deutsch-polnische Gespräche" (https://p.dw.com/p/3ux8O), einem Projekt von DW Polnisch und dem polnischen Internet-Portal "Wirtualna Polska".

Magdalena Gwozdz-Pallokat Korrespondentin DW Polski, HA Programs for Europe, Warschau, Polen