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Politik

"Diese Krise ist eine neue Chance für Europa"

Magdalena Gwozdz-Pallokat | Jan Pallokat
25. Mai 2020

Polen könnte die Corona-Krise wirtschaftlich relativ gut überstehen. Die polnische Wirtschaftsministerin Emilewicz spricht im DW-Interview über die Aussichten für ihr Land und die Konsequenzen für die EU.

Jadwiga Emilewicz - polnische Ministerin für wirtschaftliche Entwicklung
Bild: Ministerstwo Rozwoju

DW: Nach Prognosen könnte Polen von allen EU-Ländern am besten durch die Corona-Krise kommen. Glauben Sie daran?

Jadwiga Emilewicz: Wenn ganze Staaten und Wirtschaftszweige unter Quarantäne gesetzt werden, kann kein Instrument, weder Fiskal- noch Geldpolitik, etwas bewirken. Aber die ersten Daten, wie die polnische Wirtschaft diese schwierige Zeit überstehen wird, sind gemäßigt optimistisch. Wir haben nach den ersten Wochen des "Einfrierens" angenommen, dass die Arbeitslosigkeit viel höher steigen wird. Wobei man sich klarmachen muss, dass wir unter Corona-Bedingungen unter extremer Unsicherheit leben. Aber es scheint, dass eine Wirtschaft, die sich stark auf kleine und mittlere Firmen stützt und für die der Binnenmarkt eine Basis ist, sich in der Krise bewährt.

Sie haben einmal gesagt, Polen könnte von der Krise sogar profitieren. Ist das noch aktuell?

War die Antiglobalisierungsbewegung bislang eine eher soziale Bewegung am Rande des politischen Lebens, so finden heute reale Deglobalisierungsprozesse statt. In den neuen Plänen der Europäischen Kommission zum Wiederaufbau lautet einer der ersten Sätze, es gelte, Sicherheit neu zu definieren. Sicherheit ist nicht nur Militär und Material, Öl und Gas, sondern, wie wir jetzt sehen, auch Gesichtsschutz, Schutzkleidung, Desinfektionsmittel - deren Herstellung wir in den vergangenen Jahrzehnten nach und nach aus Europa hinausgeführt haben. Der Neuaufbau lokaler Wertschöpfungsketten wird das Merkmal mindestens der nächsten zehn Jahre sein. Und da haben wir unsere Kompetezen. Es gibt in Polen viele Subunternehmer in der Auto- oder Möbelindustrie, die vor allem für den deutschen Markt produzieren. Unsere Informatiker arbeiten für viele Märkte der Welt.

"Deglobalisierung" bedeutet weniger China, aber mehr Deutschland - oder ohne Deutschland?

Polens Bauern liefern viel an den heimischen MarktBild: picture-alliance/NurPhoto/A. Widak

Zu Beginn der Pandemie hieß es wegen der Quarantäne, dass in Polen Lebensmittel knapp werden würden. Aber Polen ist einer der größten Lebensmittelproduzenten in Europa. 85 Prozent der Lebensmittel auf dem polnischen Markt werden in Polen hergestellt. Wir haben die ganze Kette, vom Acker bis zum Tisch. Aber wir bekamen damals Anrufe aus Portugal, wo der Lebensmittelmarkt auf Import basiert, wieviel wir instande sein werden zu liefern.

Sie fragen, ob es nur Polen sein wird. Nein, denn wir sehen an den Erklärungen von Macron, Merkel oder meinem Kollegen Altmaier, der auch sagt, wir wollen sehen, welche Sektoren wir zurückholen können: Ziel und Sinn der Europäischen Union gewinnen neue Bedeutung.

Vorsichtige Grenzöffnungen geplant

Die polnischen Grenzen sind nach wie vor schwer durchlässig. Wie sehr hat das nach Ihren Erfahrungen der Wirtschaft geschadet?

In unserem Ministerium meldeten sich viele Arbeitnehmer aus den grenznahen Bereichen, die in Deutschland, Tschechien oder Litauen arbeiteten und ihre Arbeit verloren haben. Jetzt beginnt die Zeit der Saisonarbeiter. Geschlossene Grenzen sind ein enormes Problem vor allem für die Länder, in denen der Tourismus ein wichtiger Wirtschaftszweig ist. Wir denken über eine Öffnung um den 15. Juni nach, aber das muss sehr vorsichtig geschehen, unter Bewahrung sozialer Distanz, Gesichtsschutz, oder mit Tests.

Könnte Polens Tourismus, mit all seinen Sandstränden und Seen, nicht der große Krisengewinner sein, der all jene Deutsche anlockt, die jetzt lieber nicht im Flugzeug in den Süden fliegen wollen?

Polens Tourismusbranche hofft auf viele Gäste (Archivbild Tourismus Messe ITB 2018)Bild: DW/W.Szymanski

Die Tourismus-Branche beobachtet die Situation mit großem Interesse, und wartet sehr auf die Sommerferien, die anders sein werden als bisher. Viele Polen haben auf Auslandsreisen verzichtet. Der Anteil der Branche am BIP ist gestiegen, von sechs auf 12 Prozent.

Andererseits haben Tourismus und Gastronomie in den ersten Wochen besonders gelitten. Nun aber berichtet die Branche uns, dass es inzwischen schwer ist, einen Unterkunftsplatz für die Sommerzeit zu bekommen.

Nur der Nationalstaat könne die Bürger in der Krise schützen, war aus dem Regierungslager zu hören. Teilen Sie die Einschätzung, dass Europa in dieser Pandemie versagt hat?

Ich würde sagen, als die Krise begann, waren Nationalstaaten die ersten, die reagierten. Die EU-Kommission reagierte verspätet. Die größte Kritik an den europäischen Institutionen kam aus dem Süden Europas und resultierte aus dem Gefühl, alleingelassen worden zu sein.

Krise als Chance für das "Projekt Europa"

Diese Krise ist aber auch eine neue Chance für die europäische Gemeinschaft. Von ihrem Anbeginn haben sich die Bürger der Mitgliedstaaten an das Aufstiegsversprechen geklammert. Ganze Generationen überzeugte der Gedanke, dass es meiner Altersgruppe besser gehen wird als der Generation meiner Eltern. Und meiner Meinung nach wurde dies bereits vor der Pandemie durchbrochen. Ich denke an Symptome wie die "Gelbwesten"-Proteste oder auch die Landtagswahlen in Deutschland.

Wir müssen anfangen, über das "Projekt Europa” nicht nur in wirtschaftlichen Kategorien zu denken. Wenn wir nämlich nur mit diesem Gedanken einschlafen und aufwachen, werden während einer Wirtschaftskrise die Bürger der Mitgliedsländer sofort sagen: Wir brauchen die EU nicht mehr, weil sie uns keine wirtschaftliche Sicherheit garantiert. Die Polen glauben daran, dass diese Gemeinschaft mehr ist als nur das Bruttoinlandsprodukt oder die Europäische Investitionsbank.

Es ist interessant, was Sie sagen. Wir hören beispielsweise in Deutschland oft: Die Polen sind doch nur an EU-Geldern interessiert…

Das ist ein absolut falsches Stereotyp, aber es ist auch gleichzeitig die Konsequenz der Einstellung der EU-Kommission. Gucken Sie doch nur auf die Anforderung, dass jede EU-Investition gekennzeichnet sein muss. Europa hat sich auf die Marke "gefördert mit EU-Mitteln" reduziert.

In Umfragen zu Beginn der Transformation wurden lange Zeit die USA als wichtigster Freund Polens genannt. Bei der jungen Generation in Polen hat sich dies sehr verändert. Wir blicken auf Europa also nicht wie auf eine Buchung.

Bündnis "Vereinigte Rechte": Unterschiedliche Ansichten, aber gemeinsame Grundwerte

Ihre politische Gruppierung, "Verständigung", gilt als moderater Zweig der Regierungsfraktion. Ihr Image und auch Ihr Auftreten etwa hier im Interview unterscheidet sich von Kollegen aus der PiS-Partei. Ihr Parteichef Jaroslaw Gowin machte bei der Abstimmung zur Justizreform ein besorgtes Gesicht, Sie schrieben Protestbriefe in Sachen Trójka (ein Kaczynski-kritisches Lied verschwand aus der bekannten Hitparade des staatlichen Radiosenders, Anm. der Red.). Wieviel Einfluss aber haben Sie am Ende wirklich?

Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki führt die Regierungskoalition der "Vereinigten Rechten" Bild: picture-alliance/dpa/AP Photo/C. Sokolowski

Überall auf der Welt kommt es in Regierungskoalitionen zu Reibungen. Nicht nur zwischen CDU und CSU, aber sogar innerhalb der CDU selbst haben wir einige Flügel, die sogar jetzt während der Pandemie andere Ansichten dazu haben, was den Lockdown in der Wirtschaft betrifft. Dass wir heute den Block der "Vereinten Rechten" bilden und unterschiedliche Ansichten haben, ist völlig normal.

Wir wären jedoch nicht in dieser Regierung, wenn wir uns über Grundwerte und -regeln nicht einig wären. Wir bilden sicherlich einen liberalen Flügel in diesem rechten Zelt und wir werden sicher auch gebraucht. Wenn wir Wahlen gewinnen wollen, dann brauchen wir mehr als 50 Prozent und dafür reichen die Wähler der PiS nicht.

 

Das Interview führten Magdalena Gwozdz (DW) und Jan Pallokat (ARD Studio Warschau)

Jadwiga Emilewicz (geb. 1974 in Krakau) ist seit 2019 Ministerin für Wirtschaftliche Entwicklung und seit April 2020 stellvertretende Ministerpräsidentin der Republik Polen im zweiten Kabinett von Mateusz Morawiecki. In seinem ersten Kabinett (2018-2019) war sie Ministerin für Unternehmertum und Technologie. Die promovierte Politikwissenschaftlerin und Oxford-Stipendiatin ist stellvertretende Vorsitzende der rechts-liberalen Partei "Porozumienie" (Verständigung), die mit PiS und der Partei Solidarisches Polen als "Vereinigte Rechte" eine konservative Koalitionsregierung in Polen bilden.

Magdalena Gwozdz-Pallokat Korrespondentin DW Polski, HA Programs for Europe, Warschau, Polen
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