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Politik

Der tote Bär und das zerstrittene Land

9. August 2021

In Rumänien greifen Bären immer öfter Siedlungen und Menschen an. Ursache ist vor allem ihr schrumpfender Lebensraum. Nun streitet das Land erbittert über den Umgang mit den Tieren.

Rumänien | Braunbären
In den rumänischen Karpaten leben tausende Braunbären - so viele wie kaum anderswo in EuropaBild: Keno Verseck/DW

Rumäniens Bären: Naturschatz oder Plage?

03:52

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Wenn in Ojdula die Abenddämmerung anbricht, beginnt für die Dorfbewohner der Ausnahmezustand. Viele erlauben ihren Kindern nicht mehr, draußen zu spielen, sie sichern ihre Ställe und gehen, wenn überhaupt, selbst nur noch sehr vorsichtig vor die Tür. Denn nun ist in dem Ort in den siebenbürgischen Ostkarpaten Bärenzeit.

Fast jede Nacht kommen Braunbären aus umliegenden Wäldern und streifen bis in die frühen Morgenstunden durchs Dorf. Häufig reißen sie Zäune von Grundstücken ein, brechen Ställe auf, fressen Geflügel, manchmal fallen sie auch Schafe an. Im Bürgermeisteramt führt man Protokoll über die Zwischenfälle. In den vergangenen Monaten drangen Bären im Schnitt jede dritte Nacht auf Grundstücke ein und richteten Schaden an.

An diesem Vormittag besichtigt Arpad Kerekes den Schaden auf seinem Hof. Oder besser gesagt, das, was aussieht wie ein Massaker. Er ist Geflügelzüchter und besaß 120 Stück Rassegeflügel - Hühner, Enten, Tauben, die er mit Liebe, Mühe und viel Geld großgezogen hat. Davon sind jetzt mehr als die Hälfte tot. Ihre Überreste und Kadaver liegen überall verstreut im Hof und auf einer Wiese im Garten. Anhand der Spuren ist zu erkennen, dass hier wohl eine Bärin mit ein oder zwei Jungtieren am Werk war.

Bärenplage in Ojdula: Vizebürgermeister Levente Toth sieht sich die Schäden in einem Bauernhof anBild: Keno Verseck/DW

Das Dorf, das weltweit Schlagzeilen machte

Der 59jährige Kerekes ist gerade aus einer nahegelegenen Kleinstadt gekommen, wo er übernachtet hat. Nun zittert er vor Aufregung, Verzweiflung und Wut. "Morgen töten die Bären dann uns und unsere Kinder", ruft er verbittert aus. "Und niemand tut etwas!"

Ojdula, ein Ort mit rund 3.000 Einwohnern, liegt in Ostsiebenbürgen, wo überwiegend Angehörige der ungarischen Minderheit leben. Es ist jenes Dorf in den rumänischen Karpaten, das im Frühjahr weltweit Schlagzeilen machte, nachdem der österreichische Adlige Prinz Emanuel von und zu Liechtenstein dort einen kapitalen Bären erschossen hatte - obwohl die Tiere in Rumänien unter Naturschutz stehen, Bärenjagd streng verboten ist und Abschussgenehmigungen nur in Ausnahmefällen erteilt werden, zum Beispiel, wenn es sich um aggressive Tiere handelt, die wiederholt Menschen und Privateigentum angreifen.

Illegaler Bärenabschuss?

Umweltschützer machten den Fall des Bärenabschusses von Ojdula publik und erhoben schwere Vorwürfe: Statt einer bekannten Problembärin habe der Prinz einen nicht auffälligen, kapitalen männlichen Bären weit entfernt vom Dorf erschossen - um der Trophäe willen. Korrupte Jagdfunktionäre hätten die gesetzeswidrige Trophäenjagd auf Europas angeblich größten Braunbären namens Arthur ermöglicht.

Der Fall löste in Rumänien eine der heftigsten öffentlichen Debatten der vergangenen Jahre aus. Und sie dauert bis heute an. Es geht in ihr einerseits um die seit langem akute Bärenproblematik: In den Karpatenregionen dringen die Tiere auf der Suche nach Futter immer öfter in menschliche Siedlungen ein. In diesem Jahr ist die Zahl der Zwischenfälle besonders hoch - Berichte darüber finden sich fast täglich in rumänischen Medien. Nicht selten greifen die Bären Menschen an und verletzen sie schwer. Auch drei Todesfälle nach Bärenangriffen gab es in diesem Jahr bereits.

Bürgermeister Agoston Penzes will die Bewohner seines Dorfes vor Bärenangriffen schützenBild: Keno Verseck/DW

Ein tief gespaltenes Land

Aber in der Debatte kocht auch vieles andere hoch: Neben Umweltschutz und staatlicher Korruption geht es um den Umgang mit Naturressourcen wie Wäldern, die ausufernde Schafzucht, den praktisch unregulierten Tourismus in den Karpatenregionen oder das Verhältnis von Region und Zentralstaat. Es geht auch um einen vermeintlichen Ausverkauf des Landes an reiche Ausländer, um das Verhältnis zur EU und um die nationale Würde und Identität. Kurzum, der tote Bär Arthur führt ein tief zerstrittenes und gespaltenes Land vor.

"Rumäniens größtes Problem scheint ein vierbeiniges, pelziges Säugetier zu sein", schreibt der Publizist Arpad Kulcsar vom Portal Transindex, "ein Problem, das dieses Land anscheinend in keinerlei Weise bewältigen kann." Und seine Kollegin Magda Gradinaru vom Portal Spotmedia meint: "Eine Hälfte des Landes steht auf Seiten der Bären, die andere auf Seiten der Menschen. Verständigung zwischen den beiden Lagern gibt es nicht."

Verbot der Bärenjagd

Rumänien beherbergt die größte Braunbärenpopulation Europas außerhalb Russlands. Das Umweltministerium beziffert die Anzahl der Tiere auf 6000 bis 7000, die meisten davon in den siebenbürgischen Kreisen Mures, Harghita und Covasna. Ob die Zahlen stimmen, ist umstritten. Eine wissenschaftlich solide Zählung hat in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten niemand vorgenommen.

Die Jagd auf Bären war schon unter der Ceausescu-Diktatur ein Privileg der herrschenden Elite. Nach dem EU-Beitritt Rumäniens wurde sie wegen Naturschutzauflagen in der Union zunächst sehr stark eingeschränkt und Ende 2016 sogar ganz verboten. Der Grund: Naturschützer und Bürgeraktivisten hatten Jagdverbände beschuldigt, systematisch zu hohe Zahlen von Bären angegeben zu haben, um eine bestimmte Abschussquote zu erhalten. Daraufhin hatte das Umweltministerium ein Verbot der Bärenjagd verhängt. Seitdem machen Jagdverbände, aber auch viele Politiker aus Gegenden mit Bärenpopulationen eine wachsende Anzahl von Tieren für die immer häufigeren Zwischenfälle verantwortlich.

Kapitale Braunbären sind in den rumänischen Karpaten immer wieder Opfer der verbotenen TrophäenjagdBild: picture-alliance/SchwabenPress

"Betroffene schützen"

Inzwischen ist die Situation in einigen Landkreisen der Ost- und Südkarpaten so stark eskaliert, dass die Regierung Ende Juli eine Dringlichkeitsverordnung erließ. Damit soll es künftig möglich werden, Problembären schneller aus der Nähe von Siedlungen zu evakuieren oder sie zu erschießen. Entscheidungsträger in Problemfällen ist dabei nicht mehr das Umweltministerium, sondern jeweils eine lokale Kommission in einer betroffenen Gemeinde, geleitet vom Bürgermeister oder seinem Stellvertreter. Zugleich sieht die Verordnung vor, dass nur noch spezialisiertes Personal oder Angestellte eines betroffenen Forstbezirks zum Abschuss von Bären berechtigt sind; Fälle wie der des Prinzen von und zu Liechtenstein sollen damit verhindert werden.

Die treibende Kraft hinter der neuen Regelung war Rumäniens Umweltminister Barna Tanczos. "Das Bärenproblem in Rumänien ist das Ergebnis einer langjährigen Unverantwortlichkeit", sagt er der DW. "Seit 2016 hat sich das Umweltministerium komplett aus der Regulierung der Bärenpopulation zurückgezogen, deshalb sind Bärenangriffe in einigen Regionen Rumäniens zu einem allgemeinen Problem geworden." Dass er Lobbyist für Jagdverbände sei, wie Umweltschützer ihm vorwerfen, weist er scharf zurück - er selbst habe auch noch nie gejagt. "Die allermeisten Leute kennen das Bärenproblem in den Karpatenregionen nicht wirklich, sie stehen gefühlsmäßig auf der Seite der Bären und der Umweltschützer", sagt Tanczos. "Aber man muss die betroffenen Menschen und Siedlungen schützen."

"Im Wald macht jeder, was er will"

Csaba Borboly, der Vorsitzende des Kreisrats im Landkreis Harghita, einer der am meisten von der Bärenproblematik betroffenen Kreise, gibt sich vorsichtiger. Er plädiert dafür, dass Bauern, Jäger, Förster und Umweltschützer gemeinsam mit Lokalpolitikern ein Konzept entwickeln, das den Schwerpunkt auf Prävention legt und Abschuss nur als letztes Mittel und Ausnahme gestattet. "Wir müssen erreichen, dass es keine Bären mehr gibt, die sich daran gewöhnt haben, auf die Höfe zu gehen oder sogar den Kühlschrank zu öffnen", sagt Borboly der DW. "Wir müssen auch Ordnung schaffen. Bei uns macht jeder im Wald, was er will, eine Regulierung fehlt."

Arpad Kerekes, geschädigter Bauer in Ojdula: "Niemand tut etwas!"Bild: Keno Verseck/DW

In Ojdula ist es nicht Borboly, sondern eindeutig der Umweltminister, der die Sympathien auf seiner Seite hat. Der Bürgermeister, Agoston Penzes, fragt erregt, warum ausgerechnet Rumänien als einziges EU-Land einen so großen Bärenbestand haben müsse. "Das ist eine große Belastung für die Leute in den hiesigen Dörfern." Gerne würde man anderen EU-Ländern Bären aus Rumänien schenken, sagt Penzes ironisch lächelnd, aber niemand wolle sie haben.

"Schlag ins Gesicht"

Ähnlich sehen es auch die meisten anderen Dorfbewohner. Fast jeder Angesprochene kann von einem bedrohlichen Zusammentreffen mit Bären berichten. Bewohner zeigen die Schäden auf ihren Höfen. Ein Mann führt den Besucher in einen Keller, wo er sein Geflügel jede Nacht in verriegelte Holzkisten sperrt. Eine junge Frau berichtet, wie sie unlängst eines Morgens ihren Sohn zur Schule habe bringen wollen, als vor der Pforte ihres Hauses ein Bär entlang gelaufen sei. Bei einem alten Ehepaar, beide sind über achtzig Jahre alt, hat ein Bär vor einigen Tagen zehn Hühner gefressen - alle, die sie besaßen.

Arpad Kerekes ist den ganzen Tag damit beschäftigt, tote Hühner, Enten und Tauben oder deren Überreste einzusammeln. Immer wieder findet er in irgendeiner Ecke seines Hofes noch etwas. Und immer wieder schüttelt er verbittert den Kopf. Die Frage, ob er bei einer staatlichen Behörde eine Entschädigung beantragen könne, entlockt ihm ein sarkastisches Schnauben. "Einen Schlag ins Gesicht bekommt man", sagt er. "Mehr nicht. So ist das hier in Rumänien."