Jahrestag des Bahnhofsunglücks: Massenproteste in Novi Sad
Veröffentlicht 1. November 2025Zuletzt aktualisiert 1. November 2025
Novi Sad am 1. November 2024: Um 11:52 Uhr bricht das Vordach des Bahnhofs der Stadt im Norden Serbiens zusammen. 16 Menschen werden von herabstürzenden Bauteilen erschlagen. Dabei war das Dach gerade erst erneuert worden. Experten und Untersuchungsberichte deuten auf eine schlampige Ausführung hin. Die Tragödie löste die bisher größte und am längsten anhaltende Protestbewegung in der neueren Geschichte des Balkanlandes aus.
Am Jahrestag ist Novi Sad erneut Zentrum von Protesten. In einem Sternmarsch strömen seit Tagen aufgebrachte Bürger in die zweitgrößte serbische Metropole. Tausende marschierten von Belgrad aus nach Novi Sad. Manche kommen sogar zu Fuß ganz aus dem Süden Serbiens von Novi Pazar, das rund 240 Kilometer entfernt ist.
Forderungen nach demokratischem Wandel
Der ursprünglich von Studierenden initiierte Protest richtet sich nicht nur gegen Pfusch am Bau, sondern auch gegen Präsident Alexander Vucic. Seit einem Jahr gehen vor allem junge Bürger auf die Straße, weil sie in der Korruption und Inkompetenz des Vucic-Systems die tiefer liegende Ursache für das Unglück von Novi Sad sehen. Sie fordern echte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Neuwahlen.
Zum Jahrestag begrüßten Einwohner von Novi Sad den Protestzug in ihrer Stadt mit Feuerwerk und Applaus. Allein aus Belgrad sollen 4000 Demonstranten gekommen sein - mit dem Auto, dem Fahrrad oder zu Fuß. Sie pfiffen und schwenkten Fahnen als sie über eine mehrspurige Straßenbrücke in die Stadt einzogen.
Auch in Belgrad, Novi Pazar und anderen Städten gingen die Menschen auf die Straßen, um an die Opfer zu erinnern. Auf der Autobahn nach Novi Sad kam zur Mittagszeit der Verkehr zum Erliegen, weil Fahrer für eine Gedenkminute anhielten.
Viele Einheimische waren sichtlich bewegt: "Ich bin gekommen, um mich vor der stärksten Kraft der Welt zu verneigen - unseren Studenten, unserer Jugend", sagte Ratko Popovic aus der Region Novi Sad der Nachrichtenagentur AFP. Und Anwohnerin Ana Dzaric sagte der Associated Press: "Ich habe ehrlich gesagt ständig Tränen in den Augen. Wir erreichen endlich Freiheit, davon bin ich überzeugt."
16 Minuten langes Schweigen um 11.52 Uhr
Am Samstagmittag gedachten Zehntausende vor dem Bahnhof der 16 Opfer des Unglücks vor einem Jahr. Ab 11.52 Uhr schwiegen die Trauernden 16 Minuten lang - jeweils eine Minute für jeden Toten.
Entlang eines provisorischen Zauns in der Nähe des beschädigten Bahnhofseingangs legten Menschen Blumen nieder und entzündeten Kerzen. Die Menschenmenge füllte nicht nur den weiten Platz vor dem Bahnhof, sondern auch den kilometerlangen Freiheitsboulevard (Bulevar Oslobodjenje).
Die andauernde Proteste hatten in den vergangenen zwölf Monaten erste personellen Konsequenzen zur Folge. Dazu gehörten der Rücktritt des Premierministers, des Bauministers und des Bürgermeisters von Novi Sad. Aber Sebiens Präsident wehrt sich weiter gegen Forderungen nach vorgezogenen Neuwahlen und einer gründlichen Untersuchung des Unglücks. Und Vucic reagierte im vergangenen Jahr zunehmend aggressiv auf die Entwicklungen.
Vucic entschuldigt sich
Der Präsident bezeichnete Demonstranten regelmäßig als vom Ausland finanzierte Putschisten. Mitglieder seiner SNS-Partei verbreiten Verschwörungstheorien, wonach der Einsturz des Bahnhofsdachs ein inszenierter Anschlag gewesen sein könnte.
Doch in einer Fernsehansprache am Freitag zeigte Vucic eine seltene Geste. Er entschuldigte sich für Äußerungen, die er nun bereue. "Dies gilt sowohl für Studenten als auch für Demonstranten, ebenso wie für alle anderen, mit denen ich nicht übereinstimmte. Dafür entschuldige ich mich", sagte der Präsident und rief zum Dialog auf.
Die EU-Delegation in Serbien spricht von einem "traurigen Jahrestag". Die Vertretung der Europäischen Union appellierte an alle, "Zurückhaltung zu üben, die Spannungen abzubauen und Gewalt zu vermeiden". Zwar verliefen die Proteste im zurückliegenden Jahr größtenteils friedlich, doch Mitte August kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Die Demonstranten machen dafür das harte Vorgehen von Regierungsanhängern und Polizei verantwortlich.
Im September wurden 13 Personen im Zusammenhang mit dem Einsturz des Gebäudes angeklagt, darunter der ehemalige Bauminister Goran Vesic. Parallel dazu laufen Ermittlungen wegen Korruption und eine von der EU unterstützte Untersuchung wegen des möglichen Missbrauchs von EU-Geldern bei dem Projekt.
AR/se (afp, EBU, ap, dpa, kna)