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Politik

Bolsonaros ungehaltene Versprechen

Thomas Milz
28. Oktober 2019

Vor einem Jahr wählten die Brasilianer den Rechtspopulisten Jair Bolsonaro zu ihrem neuen Präsidenten. Damals war das Land tief gespalten. Doch die Polarisierung ist heute längst nicht mehr so ausgeprägt.

Brasilien Jair Bolsonaro
Bild: picture-alliance/ZUMAPRESS/M. Chello

"Im Oktober 2018 erlebte unser Land eine Polarisierung wie nie zuvor", erinnert sich Jairo Nicolau, brasilianischer Politikwissenschaftler von der Fundação Getúlio Vargas in Rio de Janeiro. "Ganze Familien zerstritten sich wegen der Politik", erzählt Nicolau. "Aber mein Eindruck ist, dass es heute weniger radikal zugeht." Und der Soziologe Demétrio Magnoli sagt im Gespräch mit der DW: "Heute haben wir in Brasilien zwei unterschiedliche Temperaturen. In den sozialen Netzwerken geht es immer noch heiß her. Aber in der Gesellschaft haben sich die Spannungen abgekühlt, und die soziale Polarisierung Brasiliens hat im Gleichschritt mit Bolsonaros Beliebtheit abgenommen."

Neuesten Zahlen des brasilianischen Meinungsforschungsinstituts Ibope zufolge ist die Zustimmung für den Präsidenten von 49 Prozent beim Amtsantritt im Januar auf 31 Prozent im September gesunken. Gut ein Drittel der Befragten beurteilen seine Arbeit als schlecht- im Januar waren es nur elf Prozent. "Ein dramatischer Verlust", urteilt Magnoli. Die fallenden Umfragewerte kontert Bolsonaro mit immer schärferen Parolen in den sozialen Netzwerken. "Die Regierung verschärft ihre Rhetorik, je mehr Popularität sie verliert," so Magnoli. "Das ist keine besonders gute Strategie."

Bolsonaros Interessen

Tatsächlich habe Brasiliens Regierung kaum etwas vorzuweisen. Die Exekutive erscheint erschreckend schwach. So war es nicht etwa Bolsonaros Regierung, sondern der Kongress, der die jüngst verabschiedete Rentenreform erarbeitet hatte. "Auch die Wirtschaftsagenda wird nicht von der Regierung angeschoben, sondern vom Parlament. Obwohl Brasiliens Präsidialsystem der Figur des Staatschefs eigentlich eine herausgehobene Stellung zuspricht, dürften auch die nächsten Wirtschaftsreformen vom Parlament ausgearbeitet werden. "Heute haben wir in Wahrheit kein Präsidialsystem mehr, sondern einen Semi-Parlamentarismus", sagt Magnoli.

Protest mit grünen Orangen: Die Rentenreform wurde vom Kongress erarbeitetBild: Getty Images/AFP/S. Lima

Gegen das starke Parlament kommt Bolsonaro kaum an. Im Wahlkampf hatte er unter anderem eine Entideologisierung der öffentlichen Schulen, verschärfte Abtreibungsgesetze sowie die Freigabe von Waffen für alle Bürger angekündigt. Besonders Minderheiten fürchteten damals um ihre Rechte. Doch letztlich bremste der Kongress den Präsidenten auf fast allen Ebenen aus. 

Die Rolle der Opposition

Ein schwaches Bild gibt derweil die Opposition ab. "Die brasilianische Linke ist in sich zusammengebrochen, ein einmaliger Vorgang in der Geschichte Brasiliens", urteilt der Philosoph Vladimir Safatle im Gespräch mit der DW. "Sie schafft es einfach nicht, über ihre Abwahl hinwegzukommen und einen Neuanfang zu starten."

Von 2003 bis 2016 hatte die linke Arbeiterpartei PT Brasilien regiert, so lange wie keine andere Partei. Doch schon auf die Sozialproteste im Jahr 2013 hatte sie keine Antworten mehr. In Korruptionsskandale verstrickt und für die Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht, verlor sie 2016 die Macht. Die Gründe ihres Scheiterns habe die PT nie wirklich aufgearbeitet, so Safatle: "Die Linke liebt es zu erzählen, dass sie an ihren Qualitäten gescheitert ist und nicht an ihren Fehlern. Aber Lulas Machtsystem hatte unüberbrückbare innere Widersprüche, die zur Implosion geführt haben. Und seitdem schafft es die Linke nicht mehr, eine alternative Agenda zu entwickeln."

Machtsystem mit inneren Widersprüchen: Lula da Silva im April 2018Bild: picture-alliance/AP Photo/A. Penner

Die Lähmung der Opposition lässt Bolsonaro trotz sinkender Umfragewerte ungestört weiterregieren. "Bolsonaro wird von nur 30 Prozent der Bevölkerung unterstützt, also von einer Minderheit. Aber es ist besser, eine kleine, organisierte Gruppe hinter sich zu haben als eine große, die unorganisiert ist."

Versprechen einer konservativen Revolution

Den Brasilianern hatte Bolsonaro eine Revolution von rechts versprochen, die mit den alten Gewissheiten des Landes aufräumt. "Diese Revolution würde Brasilien um 100 Jahre zurückwerfen", so Safatle, "und das mit katastrophalen Folgen, etwa in der Umweltpolitik." So habe die Regierung aus ihren ideologischen Überzeugungen heraus keinerlei Konsequenzen aus den ökologischen Katastrophen der jüngsten Zeit gezogen, weder aus der zunehmenden Abholzung des Regenwaldes noch aus den verheerenden Waldbränden am Amazonas oder aus der Ölpest in Nordbrasilien.

Waldbrände im Amazonas-Gebiet: Aus ideologischen Gründen keine Konsequenzen gezogenBild: Reuters/B. Kelly

"Hinzu kommt eine Sozialpolitik, die zur weiteren Konzentration der Einkommen führt. Das ist die Politik, die gerade in Chile implodiert. Und sie wird auch hier in Brasilien zum großen Knall führen. Es wird nur ein wenig länger dauern, bis es passiert", prophezeit Safatle. "Und darüber hinaus läuft das Ganze in einem extrem autoritär und militaristisch aufgeladenen Umfeld ab." Am deutlichsten werde dies mit Blick auf die explodierenden Zahlen der Polizeigewalt. "Das Ausmaß der staatlichen Gewalt gegen Schwarze, Arme und Favelabewohner ist unglaublich. Allein in diesem Jahr wurden rund 1800 Menschen von der Polizei getötet", so Safatle.

Gemischte Zwischenbilanz

Wie geht es weiter in Brasilien? Sollte Ex-Präsident Lula demnächst aus der Haft entlassen werden, könnte dies eine neue Dynamik entfachen, glaubt Magnoli. "Das würde die politische Landschaft Brasiliens durchschütteln. Ironischerweise könnte Lulas Freilassung aber sogar der Regierung helfen. Denn die Unterstützung, die Bolsonaro noch hat, basiert vor allem auf der Ablehnung Lulas und der PT."

Politologe Jairo Nicolau glaubt jedoch, dass die Ablehnung der PT in der Bevölkerung nachlässt - zum einen dank der Enthüllungen einer Internetplattform, die auf Justizmanipulationen im Verfahren gegen Lula hinweisen, zum anderen, weil Bolsonaro zahlreiche Versprechen nicht halten konnte. "Die Leute wollten damals etwas Neues, aber wenn das dann nicht eintritt, überdenkt man die Dinge neu. Lula dürfte deshalb heute positiver beurteilt werden als vor einem Jahr."

Ein Jahr nach Bolsonaros Wahl zieht Soziologe Magnoli deshalb eine gemischte Zwischenbilanz: "Es besteht durchaus Hoffnung, dass die Wirtschaft anspringt - und die Möglichkeit, dass die Regierung trotzdem weiter an Beliebtheit verliert."

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