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Jakob von Uexküll: "Wir brauchen den Druck der Straße"

Mirjam Gehrke25. Juni 2013

Der Stifter des Alternativen Nobelpreises fordert im DW-Interview eine Abkehr vom westlichen Wirtschaftsmodell. Nur mit Demonstrationen wie in der Türkei und Brasilien seien Veränderungen machbar.

Jakob von Uexküll, Gründer des Weltzukunftsrats World Future Council (WFC)(Foto: dpa)
Jakob von UexküllBild: picture-alliance/dpa

Deutsche Welle: Wie muss Wachstum in Zukunft gestaltet werden, damit es nachhaltig wird. Welche neuen Werte brauchen wir?

Jakob von Uexküll: Wir haben die alten Werte vergessen. Wir sind dabei, uns rückwärts zu entwickeln.

Unser Festhalten an Konkurrenzdenken und Individualismus ist sehr kindisch. Wir verstehen uns als Verbraucher. Neid ist die treibende Kraft. Jeder will mehr haben als der andere. Dieses Wachstumsmodell stößt in einer endlichen Welt eindeutig an Grenzen. Wir können vielleicht einige dieser Grenzen überwinden, aber eben nicht alle.

Unsere Vorfahren wussten das bereits. In Japan konnten die Menschen im Mittelalter sehr reich werden. Aber wenn ihr Lebensstil bei ihren Mitmenschen Neid erzeugte, hatte der Kaiser das Recht, ihnen ihren Wohlstand zu nehmen.

Heutzutage scheint das oberste Ziel eines jeden zu sein, Neid bei anderen zu erzeugen. Die Gier ist zum Wert geworden. Damit müssen wir Schluss machen, denn wir stoßen global zunehmend an die Förderhöchstmengen von fossilen Rohstoffen. Der Klimawandel erzeugt immer größere Probleme, Ernten fallen aus.

Wir brauchen eine erneuerbare Wirtschaft. Wir brauchen Werte, die die Menschheit und die Natur aufblühen lassen. Jeder kennt den Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums. Kurz darauf veröffentlichte der Club of Rome einen zweiten Bericht über die Zukunftschancen des Lernens. Unsere Werte müssen auf diesem zweiten Bericht fußen.

Von Uexküll: "Die Gier ist zum Wert geworden"Bild: Getty Images

Brauchen wir neue politische Strukturen als Rahmenbedingung für diese Wertedebatte?

Wir müssen uns auf die Erfahrung aus der Vergangenheit besinnen. In der vorkolonialen Zeit gab es beispielsweise in Indien Ratgeber, die in die Zukunft blickten. Sie mussten sicherstellen, dass Entscheidungen nicht zu Lasten der Interessen zukünftiger Generationen getroffen wurden.

In Nordamerika gab es das Prinzip der siebten Generation: Beschlüsse des Stammesrates wurden auf ihre Auswirkungen für die nächsten sieben Generationen hin untersucht. Heute belasten wir die nächsten Generationen stärker als es je in der Vergangenheit denkbar war. Die Interessen kommender Generationen werden heute nicht berücksichtigt, dabei wird ihr Lebensraum schon jetzt vernichtet.

Der World Future Council fordert die Einrichtung eines Hohen Kommissars für die kommenden Generationen auf internationaler Ebene. So könnte auf UN-Ebene sicher gestellt werden, dass UN-Entscheidungen nicht zu Lasten der Interessen kommender Generationen getroffen werden.

Es gibt solche Ämter bereits in Einzelfällen auf nationaler Ebene. Ungarn hatte eine parlamentarische Ombudsperson für die zukünftigen Generationen. Leider ist das Amt sehr geschwächt worden. In zahlreichen anderen Ländern gibt es vergleichbare Institutionen. Das ist ein mögliches Modell. Wir brauchen starke Organisationen, die den Übergang zu einer neuen Werteordnung unterstützen und sicherstellen, das wir unsere Umwelt nicht weiter zerstören.

Smog in Peking - Folge der unkontrollierten IndustrialisierungBild: picture-alliance/dpa

Brauchen wir dazu verbindliche Regeln? Die Leitlinien für die Wirtschaft, die es bislang gibt, sind freiwillig. Ist das ausreichend?

Nein, das reicht nicht. Das lässt sich ganz klar an einigen Beispielen ablesen. Die Welthandelsorganisation hat verbindliche Regeln und deshalb funktioniert sie. Im Sport gibt es weltweit gültige Regeln und deshalb funktionieren internationale Sportwettbewerbe, die Menschen vertrauen ihnen. Sie empfinden sie als fair.

Aber dem globalen Wirtschaftssystem trauen die Menschen nicht. Sie empfinden es als unfair eben weil es keine verbindlichen Regeln gibt. Die mächtigsten Akteure und Unternehmen können im Grunde genommen machen was sie wollen. Das westliche, auf Wachstum basierende Wirtschaftsmodell hat die Welt erobert. Aber die Menschen begreifen, dass man ihnen eine Mogelpackung verkauft hat. Denn das Wirtschaftswachstum wird zunehmend unwirtschaftlich. Die Kosten sind höher als der Gewinn an Lebensqualität. Ja, wir brauchen verbindliche Regeln. Es gibt ja bereits eine Reihe von Abkommen auf freiwilliger Basis, die verpflichtend gemacht werden könnten. Es ist eine Frage der Macht.

Welche Rolle spielt die Zivilgesellschaft in diesem Prozess?

Es ist vor allem wichtig, dass wir hier von Zivilgesellschaft und nicht von Nichtregierungsorganisationen sprechen. Wir haben uns zu sehr an die Idee gewöhnt, uns über negative Beschreibungen zu definieren. Wir vergessen, dass wir als Zivilgesellschaft, als Bürger natürlich Teil des öffentlichen und politischen Lebens sind. Es geht nicht darum, Berufspolitiker zu werden, aber wir können doch nicht leugnen, dass Veränderungen nur unter Druck zustande kommen. Wir können sehr mächtig sein, wenn wir nur genug Druck erzeugen.

Das Problem ist doch folgendes: Unserer Gegner, Interessengruppen, die ihre Privilegien bewahren wollen, sind sehr gut organisiert, die finanzieren ihre eigenen Institutionen, Denkfabriken, Lobbyisten und Journalisten. Diejenigen hingegen, die nach einer Lösung suchen, halten Konferenzen ab und unterzeichnen Erklärungen. Aber es mangelt an einer effektiven Zusammenarbeit.

"Wir brauchen den Druck der Straße" - Demonstration gegen Korruption in BrasilienBild: Reuters

Der World Future Council strebt einen Politikwechsel an. Wir identifizieren gute Politikbeispiele, damit die Bürger Druck auf ihre Abgeordneten ausüben können.

Wir wollen Politiker und Bürger politisch schulen. Denn es reicht nicht aus, wenn man tolle Ziele hat, die bestehenden Verhältnisse kritisiert oder kleinere Probleme löst. Wir müssen auf einer globalen Ebene arbeiten, und gleichzeitig die Dinge auf lokaler Ebene sichern. Global und lokal hängen eng miteinander zusammen. Wir brauchen international verbindliche Abkommen. Aber die wird es nur geben, wenn die Bürger Druck auf ihre Parlamente ausüben. Anders geht es nicht.

In der Türkei, in Brasilien gehen die Menschen auf die Straße und setzen die Regierungen unter Druck. In den USA hat die Occupy-Bewegung ihren Ursprung. Vor welchen Herausforderungen steht die Politik?

Diese Herausforderungen sind wichtig und ich würde mir mehr davon wünschen. In der Türkei zeigt sich, dass Politiker Angst haben vor Menschen, die bereit sind auf die Straße zu gehen, die bereit sind sich Tränengas und Polizeigewalt auszusetzen, die für den Erhalt eines Parks und gegen ein Einkaufszentrum demonstrieren. Den Plan hat die Regierung ja inzwischen wieder aufgegeben.

Das Problem der Occupy-Bewegung war, dass sie nicht lange genug durchgehalten hat, und dass sie nicht genau wusste, welche Ziele sie verfolgte.

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Der World Future Council hat deshalb einen globalen Politik-Aktions-Plan erarbeitet. Wir können nicht mit hunderten von Wünschen arbeiten. Wir müssen priorisieren, auch wenn dadurch einige Leute überstimmt werden. Soziale Bewegungen müssen wissen, welche Ziele sie verfolgen. Da ist der Druck von der Straße wichtig.

Es ist einfach, zu twittern oder eine Petition im Internet zu unterzeichnen. Politiker wissen das, sie lassen sich davon nicht beeindrucken. Soziale Medien können Menschen mobilisieren und informieren, aber sie ersetzen nicht das altmodische politische Engagement, den direkten Kontakt mit einem Minister oder einem Abgeordneten oder die Demonstration auf der Straße, wie in der Türkei. Das sind immer noch die effektivsten Methoden um einen Wandel von unten zu erreichen.

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