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PolitikAsien

Japan: Überlebende kämpfen mit Kälte, Angst und Nachbeben

Sonja Blaschke aus Wajima und Suzu, Japan
10. Januar 2024

Nach dem schweren Erdbeben sind die Rettungsaktionen in vollem Gange. Die Arbeiten gehen aber mühsam voran. DW-Reporterin Sonja Blaschke berichtet aus dem japanischen Katastrophengebiet in Wajima und Suzu.

Japan | Erdbeben Noto-Halbinsel
Bild: Sonja Blaschke

Am Neujahrstag war Shinngi Takesono gerade mit dem Auto unterwegs, als er ein Vorbeben der Stärke 5,7 spürte. Er hielt an, um seine Frau Hatsue anzurufen und sie zu bitten, ein Heizgerät zu Hause auszuschalten - ein potenzielles Brandrisiko.

Der 58-Jährige ist Oberpriester eines 500 Jahre alten Tempels - ein Holzgebäude, das im Zentrum der kleinen Stadt Wajima im Nordwesten Japans liegt.

Kurz darauf schrieb ihm Hatsue zurück, dass sie das Heizgerät abgestellt habe. Es war ihr letztes Lebenszeichen.

Takesono eilte zum Tempel zurück. Er wohnte mit Hatsue in einem 45 Jahre alten Haus neben dem Gotteshaus. Als er dort zwei Minuten später ankam, schwankte die Erde erneut. Das Hauptbeben war so stark, dass er es nicht einmal aus dem Auto schaffte. Hilflos musste er mitansehen, wie sein Wohnhaus einstürzte. Das Erdgeschoss wurde völlig zerquetscht.

Shinngi Takesono vor seinem zerstörten HausBild: Sonja Blaschke

Suchaktion ergebnislos

Am Nachmittag begannen zwei Suchtrupps der Polizei abwechselnd in den Schutt zu klettern, lose Teile herauszutragen und Hindernisse mit schwerem Werkzeug zu zerschlagen. Doch weder sie noch der eingesetzte Spürhund fanden eine Spur von Hatsue. Nach weit über drei Stunden mussten sie aufgeben.

"Hätte ich sie doch nur gebeten, sich zuerst in Sicherheit bringen", sagte Takesono voller Selbstvorwürfe und Verzweiflung, während er versuchte, seine Tränen zu unterdrücken. Es war inzwischen der 5. Januar, vier Tage nach dem Beben. Der Vorhof des Tempels war mit zerbrochenen Dachziegeln und Trümmern übersät.

Takesono sagte, er wolle seine Geschichte erzählen, damit sie anderen als mahnendes Beispiel diene.

Es mutet wie eine Ironie des Schicksals an, dass nur wenige Meter über die Straße nach dem Beben ein Großbrand wütete, der ein riesiges Viertel in ein Meer aus verkokeltem Holz, geschmolzenem Plastik und Metallgerippen verwandelte. Vier Tage nach der Feuersbrunst in dem berühmten Morgenmarkt und Lackwarenviertel von Wajima, das auf eine über tausendjährige Geschichte zurückblickt, schwelte es dort noch immer. Der Brand zerstörte etwa 200 Gebäude, ließ aber Takesonos Tempel unversehrt.

Ein Suchtrupp der Polizei wartet, während ein weiterer in das zerstörte Wohnhaus der Takesonos klettert, um nach der vermissten Hatsue zu suchen. Sollte es zu einem starken Nachbeben kommen, könnten sie ihre Kollegen rettenBild: Sonja Blaschke

Weitreichende Zerstörung

Hatsue ist eine von derzeit 52 Menschen in der Präfektur Ishikawa, die seit dem Erdbeben der Stärke 7,6 vermisst sind. Bis Mittwochnachmittag (10.1.24) wurde der Tod von 206 Personen bestätigt, 83 in der am stärksten betroffenen Stadt Wajima. Weitere 567 Menschen wurden verletzt.

Das Beben, das auf der japanischen "Shindo"-Skala, die die seismische Intensität am jeweiligen Ort angibt, die höchsten Stufen von sechs und sieben erreichte, zerstörte mindestens 1.400 Häuser. Die Schäden in den am stärksten betroffenen Gebieten konnten bisher nicht mitgezählt werden.

Außerdem lösten die Erdstöße Tsunamiwarnungen entlang der gesamten japanischen Westküste aus. Die Wasserwände versenkten Boote und zerstörten Küstenwälle, Autos und Häuser.

Zerstörte Häuser in WajimaBild: Sonja Blaschke

Katastrophale Zustände

Die DW-Reporterin kam 72 Stunden nach dem Beben in Wajima an. Die Luft war erfüllt von den heulenden Sirenen der Krankenwagen und Feuerwehrautos und dem Dröhnen der Hubschrauber. Diese Geräuschkulisse wurde regelmäßig vom Schrillen des Bebenalarms durchbrochen, wenn ein weiteres Nachbeben eine Warnung per Mobiltelefon auslöste.

Japan liegt am pazifischen Feuerring und wird regelmäßig von Erdbeben heimgesucht. Das Ausmaß der Zerstörung durch das Neujahrsbeben ist selbst für Japan von einer Größenordnung, die das Land selten sieht: Ganze Stadtteile wurden in große Haufen aus herabgestürzten Dächern, zerbrochenen Dachziegeln und verstreuten Habseligkeiten verwandelt. Strommasten waren zur Seite gekippt, die Leitungen baumelten. Aus abgesackten Straßen ragten Abwasserschächte hervor.

Im Zentrum von Wajima war selbst ein moderner siebenstöckiger Wohnblock aus Beton, der nach viel strengen Bauvorschriften erdbebensicher gebaut wurde, um 90 Grad zur Seite gefallen. Trotzdem kletterte ein Ehepaar vier Tage später über eine Leiter wieder hinein, um Kissen aus ihrer Küche zu holen. "Ich möchte nicht, dass Sie dieses Haus filmen", sagte die Hausherrin verstimmt, ihre Schuhe notdürftig von Tüchern zusammengehalten.

Ein weiteres Betongebäude hatte sich in den Boden gebohrt und neigte sich nun bedrohlich über eine der Hauptverkehrsadern in die Stadt. Die meisten Straßen wiesen massive Risse und Löcher auf, manche Gehwege waren schlammbedeckt - eine Folge von Bodenverflüssigung.

Kaputte Straßen auf der Noto-HalbinselBild: Sonja Blaschke

Wettlauf mit der Zeit

"Zweiundsiebzig Stunden gelten als kritisches Zeitfenster, danach sinken die Überlebenschancen rapide", sagte Kuniyuki Kawasaki, Generaldirektor des Städtischen Krankenhauses Wajima mit 175 Betten. Sein Hospital ist der Treffpunkt von Rettungskräften. Die auf Katastrophenhilfe spezialisierten Einsatztruppen (Disaster Medical Assistance Teams, DMAT) sind als Verstärkung gekommen, ebenso die Soldaten der Selbstverteidigungskräfte und Mediziner des Roten Kreuzes.

Ins Krankenhaus wurden meistens Schwerverletzte eingeliefert, erklärte Kawasaki, einige von ihnen im fortgeschrittenen Alter, für die aufgrund ihrer Verletzungen nur eine Amputation infrage käme. Aber Patienten über 80 Jahre würden nicht mehr die körperliche Kraft besitzen, einen solchen Eingriff zu überleben, sagte Kawasaki. Die Ärzte könnten nichts tun, als ihnen beim Sterben zuzusehen. "Schwer auszuhalten", sagte er.

Die Überlebenden kämpfen mit Angst, Kälte, Hunger und schwierigen sanitären Bedingungen. Die Wasserversorgung in weiten Teilen der Halbinsel Noto war unterbrochen. "Heute haben wir endlich mobile Toiletten bekommen", sagte eine Mitarbeiterin einer Notunterkunft in der Nähe von Takesonos Tempel. Den Evakuierten konnten bis dahin lediglich spezielle Plastiktüten für Notdurft zur Verfügung gestellt werden, die entweder nach einmaligem Gebrauch entsorgt oder in der Toilettenschüssel gelassen werden, bis sie voll sind.

Supermarktverkäufer Ryouto Sabu: "Damit wir so viele Leben wie möglich retten können, gestatten Sie uns bitte, die Zahl der Produkte, die ein Haushalt kaufen kann, auf zehn zu beschränken"Bild: Sonja Blaschke

Notration

Knapp eine Woche nach dem Erdbeben öffnete ein großer örtlicher Supermarkt erstmals seit dem Beben seine Türen. Davor bildete sich eine lange Schlange. Viele Menschen wollten vor allem Wasser und Hygieneartikel wie Windeln kaufen, sagte der Verkäufer Ryouto Sabu. Während er die Kunden begrüßte, hielt er ein Schild hoch. Darauf stand: "Bitte nur 10 Artikel pro Haushalt".

In noch abgelegeneren Orten wie Suzu, einer Stadt mit 12.000 Einwohnern an der Nordspitze der Halbinsel, werden Hilfsgüter mit Hubschraubern eingeflogen. Noch haben nicht alle Ortschaften Strom. Schätzungsweise leben noch 90 Prozent der Bevölkerung der Katastrophengebiete derzeit in Notunterkünften.