Hiroshima und Nagasaki - Mahnung in Zeiten des Wettrüstens
Veröffentlicht 5. August 2025Zuletzt aktualisiert 6. August 2025
"In diesem Moment sah ich den bläulich-weißen Blitz im Fenster. Im nächsten Moment hatte ich das Gefühl, ich schwebe in der Luft. Durch die Druckwelle der Detonation wurden wir in die Luft geschleudert." Die heute 93-jährige Anti-Atomaktivistin Setsuko Thurlow beschrieb in einem DW-Interview vor einigen Jahren den Moment der Detonation der amerikanischen Atombombe "Little Boy" über Hiroshima am 6. August 1945 um 8:15 Uhr. Zwischen 90.000 und 136.000 Menschen sind damals sofort tot oder erliegen später ihren schweren Verletzungen. Setsuko Thurlow ist damals 13 Jahre alt und Schülerin. Sie hat immer wieder vom Horror des Tages erzählt, der alles veränderte.
"Nach und nach konnte ich Gestalten erkennen. Es waren Menschen. Sie sahen aber überhaupt nicht aus wie Menschen. Ihnen standen die Haare zu Berge. Sie waren blutüberströmt. Die Haut und das Fleisch hingen von den Knochen. Ganze Körperteile fehlten. Und jemand lief da entlang, der seine Augen in den Händen hielt", erzählte Thurlow weiter. Ihre Eltern überlebten. Aber ihre Schwester und eine Nichte starben wenige Tage nach der Explosion.
Ihr Leben hat Thurlow dem Kampf gegen Atomwaffen gewidmet, sie wurde zur führenden Persönlichkeit der Organisation "International Campaign to Abolish Nuclear weapons" (ICAN). Das Bündnis zur Abschaffung aller Atomwaffen wurde 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Thurlow hielt die Festrede.
Da die japanische Regierung nach dem Bombenabwurf auf Hiroshima nicht bedingungslos kapituliert, entscheidet sich die US-Regierung für den Abwurf einer zweiten Bombe anderer Bauart. Zunächst ist die Hafenstadt Kokura als Ziel vorgesehen. Wegen schlechten Wetters dreht der US-Bomber bei und wirft am 9. August die zweite Atombombe über Nagasaki ab. Zehntausende Menschen sterben sofort. Kurz danach endet der Zweite Weltkrieg auch in Asien. Hunderttausende Überlebende der beiden Atombombenabwürfe leiden ihr Leben lang an den Spätfolgen, wie Verbrennungen und Krebserkrankungen oder Missbildungen durch radioaktive Strahlung. Die Gesamtzahl der Toten und Versehrten bleibt bis heute umstritten.
Seit 1947 wird in Hiroshima am 6. August um 8:15 Uhr die "Friedensglocke" geläutet. Im Rahmen einer Zeremonie wird der Toten gedacht. Der jeweils regierende Bürgermeister ruft zur Abschaffung von Atomwaffen auf und appelliert, für Frieden in der Welt einzutreten. Ein Ritual. In seiner 1946 verabschiedeten "Friedensverfassung" verpflichtet sich Japan, nie mehr Krieg zu führen. Zudem beschloss das Land im Jahr 1967 die "Nicht-Nuklearprinzipien", nach denen es den Besitz und die Einfuhr von Atomwaffen ablehnt.
Japan: doppelt getroffen von Nuklearkatastrophen
Der Militärhistoriker und Japan-Kenner Takuma Melber von der Universität Heidelberg nennt im DW-Interview das Gedenken an die Abwürfe ein "zentrales erinnerungskulturelles Ereignis" für die Nation. "In Japan wird die Friedensbotschaft, dieses Gedenken an die Atombombenabwürfe, weiter hochgehalten. Also dieses Nie-wieder-Krieg! Nie wieder Einsatz von Kernwaffen! Japan als Land, das sich für Frieden einsetzt auf der Welt." Diese Auffassung reihe sich ein in das Narrativ eines pazifistisch orientierten Landes: "Japan als Schicksalsnation der nuklearen Katastrophen. Man stellt die Atombombenabwürfe in eine Reihe mit der Reaktorkatastrophe von Fukushima von 2011. Japan also als Opfer militärischer und ziviler Nukleartechnologieanwendung."
Nach dem Krieg nähern sich die einstmaligen Gegner Japan und USA wieder an. Entschuldigt hat sich die amerikanische Seite jedoch nie für die Atombombenabwürfe. Japan gehört keinem multilateralen Militärbündnis wie der NATO an, ist jedoch ein enger Partner. Die USA sind – auch atomare – Schutzmacht für Japan, das selbst nicht über Atomwaffen verfügt. Heute sind rund 54.000 US-Militärangehörige in Japan stationiert. Sie sollen zur Verteidigung des Landes beitragen und die Sicherheit garantieren.
"Japan nimmt sich selbst als Frontstaat wahr", sagt der Sicherheitsexperte Nico Lange der DW. "Mit China, Nordkorea und anderen Nachbarn. Bei Deutschland ist es so: Selbst wenn die Russen schon in der Ukraine einmarschieren, haben viele in Deutschland immer noch das Gefühl, das ist weit weg. Ich glaube, wir können da von der Ernsthaftigkeit der Japaner, was ihre eigene Zeitenwende angeht, eher etwas lernen in Deutschland", so Lange. Beide Staaten wollen ihre Militärausgaben massiv steigern.
Rüstungsboom weltweit
Weltweit wurde im vergangenen Jahr so viel Geld für Rüstung ausgegeben wie nie seit dem Ende des Kalten Krieges, berichtet das Friedensforschungsinstitut SIPRI. Die Analysten verzeichnen für 2024 einen Anstieg von 9,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Geld wird von den führenden Atommächten USA, Russland und China vor allem in die Modernisierung ihrer Atomarsenale gesteckt. Immer mehr Staaten dächten darüber nach, Atomwaffen zu entwickeln oder zu stationieren, sagte SIPRI-Direktor Dan Smith kürzlich gegenüber der DW. "Am besorgniserregendsten mit Blick auf die Atomwaffenlager ist, dass wir nach einer langen Zeit der Reduzierung erste Anzeichen dafür sehen, dass sich diese Entwicklung dreht. Die langfristige atomare Abrüstung geht zu Ende."
Russland verfügt über das größte Atomwaffenarsenal mit laut SIPRI 5459 Sprengköpfen. Immer wieder hatte Präsident Wladimir Putin vor dem Hintergrund des Krieges Unterstützerländern der Ukraine mit dem Einsatz von Atomwaffen gedroht. Die USA sind zweitgrößte Atommacht mit 5177 Sprengköpfen. Mit weitem Abstand folgen China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea.
Historisch betrachtet gibt es zwischen Japan und Deutschland sehr viele Ähnlichkeiten in Bezug auf atomare Rüstung. Sicherheitsexperte Lange erklärt: "Beide Länder haben gemeinsam, das wir sehr dagegen stehen. Und dass wir auch dagegen auftreten. Aber die Frage ist: Wenn man selbst keine Atommacht ist, hat man dann eigentlich noch mitzureden?"
Bei einem möglichen Einsatz von Atomwaffen von Japan oder Deutschland aus hätten beide Länder keine Handlungsfreiheit. Die USA hätten das Sagen. In Deutschland lautet das Stichwort nukleare Teilhabe, durch die der Nicht-Atomwaffenstaat Deutschland an den Atombomben der USA partizipieren kann. Experten gehen davon aus, dass 20 US-Atombomben in dem Ort Büchel in Rheinland-Pfalz gelagert werden. Die Entscheidungshoheit über diese Waffen liegt beim amtierenden amerikanischen Präsidenten. Ins Ziel gebracht würden die Atomwaffen jedoch durch deutsche Jets.
Braucht Europa mehr Atomwaffen?
Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine werden immer wieder Stimmen laut, Deutschland solle einen direkteren Zugriff auf Atomwaffen haben. Diese Forderung hatte erst kürzlich der Fraktionschef der Unionsparteien CDU/CSU, Jens Spahn, aufgebracht. "Wir müssen über eine deutsche oder europäische Teilhabe am Atomwaffen-Arsenal Frankreichs oder Großbritanniens reden, möglicherweise auch über eine eigene Teilhabe mit anderen europäischen Staaten", hatte er in einem Interview gesagt.
Auch in Japan ist der Ruf nach eigenen Atomwaffen schon länger kein Tabu mehr. Die Bedrohung durch die Atomstaaten Nordkorea und China verunsichert die Bevölkerung. Auch der Ukraine-Krieg hat in Japan zu einem Umdenken geführt. Zwar gelten weiterhin die drei Prinzipien der Nichtaneignung, der Nichtproduktion und der Nichteinfuhr von Nuklearwaffen. Allerdings, so sagen einige Politiker in Japan, könne man durchaus über ein kleineres Nuklearwaffenarsenal nachdenken. Doch gegen solche Überlegungen gibt es großen Widerstand.
Dennoch: Japan bleibt eine stark pazifistisch geprägte Gesellschaft. "In Japan wird immer dieses Mantra bedient, man darf nie wieder eine imperialistische Kraft werden in dieser Region. Japan stellt sich da eindeutig unter den Schutzschirm der USA", sagt Takuma Melber von der Universität Heidelberg
80 Jahre Gedenken an die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Nur noch wenige Zeitzeugen - genannt Hibakusha - können aus eigenem Erleben berichten und mahnen, wie Setsuko Thurlow: "Jetzt haben wir immer noch 16.000 von diesen Waffen. Das ist verrückt, kriminell sogar. Ich werde nicht aufhören, den Leuten zu erklären, dass wir im nuklearen Zeitalter leben, und deshalb werden wir unsere Stimmen erheben. Denn die Politiker bauen immer noch mehr. Statt, wie damals, ein Staat mit Atomwaffen, sind es heute neun Länder. Wir müssen diesen Prozess stoppen!"