Japan: Außenseiter Shigeru Ishiba wird neuer Premierminister
27. September 2024Die Liberaldemokratische Partei (LDP), die Japan seit rund 70 Jahren fast ununterbrochen regiert, hat den früheren Verteidigungsminister Shigeru Ishiba zu ihrem neuen Vorsitzenden gewählt. Am kommenden Dienstag (01.10.2024) folgt seine Wahl zum Premierminister durch das Unterhaus, in dem die LDP die Mehrheit besitzt. Der 67-jährige Parteiveteran, der sich selbst als "konservativen Liberalen" bezeichnet, setzte sich bei der Abstimmung unter Abgeordneten und Mitgliedern der LDP überraschend gegen die 63-jährige national-konservative Ministerin für Wirtschaftssicherheit, Sanae Takaichi, durch.
Die Wahl zwischen Ishiba und Takaichi wurde als Kampf um die Seele der LDP wahrgenommen: Auf der einen Seite der Außenseiter Ishiba, der schärfste parteiinterne Kritiker der national-konservativen Politik des langjährigen Regierungschefs Shinzo Abe, mit seiner fünften Bewerbung um den Parteivorsitz. "Meine letzte Schlacht", wie Ishiba am Freitag sagte.
Auf der anderen Seite die Galionsfigur des rechten LDP-Flügels Takaichi, die als intellektuelle Nachfolgerin von Abe, der vor zwei Jahren durch ein Attentat starb, die erste Premierministerin von Japan werden wollte. Ishiba hatte in der Stichwahl mit 215 Stimmen die Nase vorn, die favorisierte Takaichi erhielt 194 Stimmen. Insgesamt bewarben sich neun Kandidaten um den Parteivorsitz. In dem ersten Durchgang erhielt keiner von ihnen die absolute Mehrheit.
"Wir müssen an die Menschen glauben, ihnen die Wahrheit mit Mut und Aufrichtigkeit sagen und zusammenarbeiten, um Japan zu einem sicheren Land zu machen, in dem jeder wieder mit einem Lächeln leben kann", erklärte Ishiba nach seiner Wahl.
Ein ehrlicher Idealist
In seiner Autobiografie "Konservativer Politiker: Meine Politik, mein Schicksal" beschreibt sich Ishiba als "Idealisten", der nicht nach Macht und Reichtum für die Nation streben, sondern Japan mit seinen Lösungen verbessern will. Er lehnt die verstärkte Rückkehr zur Atomkraft ab und will verheirateten Paaren erlauben, getrennte Nachnamen zu verwenden. In Japan ist es gesetzlich vorgeschrieben, dass die Frau nach der Eheschließung den Nachnamen des Ehemanns annehmen muss.
Diese Positionen brachten ihm die Feindschaft des Abe-Flügels ein. Aber wegen seiner Prinzipientreue betrachten viele Wähler Ishiba als einen "ehrlichen und volksnahen Politiker". Dieses positive Image könnte seine Partei in ihrer schweren Krise nun dazu bewogen haben, den Außenseiter in ihre Mitte zu holen und auf den Schild zu heben.
Viele Abgeordnete bangen um ihre Zukunft, da das Unterhaus bis spätestens Herbst 2025 neu gewählt werden muss. Der Stabwechsel an der Regierungsspitze ist nämlich die direkte Folge eines Spendenskandals in der LDP-Parlamentsfraktion, durch den die Regierungspartei stark an Ansehen eingebüßt hat.
Viele Abgeordnete hatten mithilfe eines ausgeklügelten Systems Spendengelder an den Finanzämtern vorbei in schwarze Kassen umgeleitet. Darauf löste Premier Fumio Kishida die internen Machtgruppen der LDP-Fraktion auf und verzichtete auf seine Wiederwahl als Parteichef. Damit geht jetzt auch seine dreijährige Regierungszeit zu Ende.
Abschied vom konservativen Nationalismus
Zwar ist Ishiba keineswegs das "frische Gesicht", das sich Kishida öffentlich für seine Nachfolge gewünscht hat. Ishiba sitzt schon seit 38 Jahren im Parlament, war auch Agrarminister und LDP-Generalsekretär. Sein Vater war Innenminister. Der Generationswechsel an der LDP-Spitze hat also noch nicht stattgefunden.
Aber der neue Parteichef steht für "eine Absage an ein Vierteljahrhundert der Dominanz von Shinzo Abe und seiner nationalkonservativen Bewegung", so der Analyst Tobias Harris. Außerdem hat Ishiba, anders als seine Konkurrentin Takaichi, Reformen der Partei versprochen und sogar gedroht, die LDP-Kandidaten fallenzulassen, die ihr Einkommen nicht ordnungsgemäß gemeldet haben.
Der designierte Regierungschef hat angekündigt, das wirtschaftspolitische Programm von Kishida fortzusetzen. Dessen "neuer Kapitalismus" zielte darauf ab, die Löhne und die Vermögen der Japaner zu vermehren. Kishida setzte auf erhöhte Staatsausgaben und unterstützte die Normalisierung der Geldpolitik durch kleine Zinserhöhungen. Darüber hinaus dürfte sein designierter Nachfolger die dringend notwendigen Reformen des Renten- und Pflegesystems anpacken, das durch die alternde Gesellschaft unter Druck geraten ist.
Konstruktive Beziehungen zu China
In der Sicherheits- und Außenpolitik will der studierte Jurist eine moderate Linie verfolgen. Wegen seines tiefen Interesses an militärischen Fragen gilt er als "Verteidigungsfreak". Zum Beispiel baut Ishiba gerne Plastikmodelle von Kampfjets und Kriegsschiffen zusammen. Der Fan von Ramen-Nudelsuppen steht hinter der Steigerung der Verteidigungsausgaben und fordert die Schaffung einer asiatischen Militärallianz nach dem Vorbild der NATO.
Zugleich befürwortet Ishiba konstruktive Beziehungen zu China und drängt auf mehr Gleichberechtigung von Japan in der Sicherheitspartnerschaft mit den USA. "Wir werden wahrscheinlich Japans radikalste Regierung seit Jahrzehnten sehen", meint Politologe Rob Fahey vom Waseda Institute for Advanced Study in Tokio. "Aber seine Politik könnte auch die LDP selbst tief spalten."