Japanische Zurückhaltung im Hörsaal
17. November 2015 Am Anfang herrscht ein paar Sekunden Schweigen im Saal der Waseda University in Tokio. Etwas schüchtern blicken die Studenten auf Svenja Schulze, die gerade dazu aufgefordert hat, Fragen zu stellen. Die nordrhein-westfälische Wissenschaftsministerin ist gekommen, um mit Studierenden zu sprechen und zu erfahren, wie sich ein Studium in Japan von dem in Deutschland unterscheidet.
Eine junge Frau mit langen Haaren und Brille traut sich als erste. Sie sei Studentin der Literaturwissenschaft und wolle wissen, welchen Stellenwert ihr Studienfach in Deutschland habe. In Japan habe es gegenüber anderen Studiengängen wie beispielsweise Jura einen schweren Stand. Die Ministerin beantwortet die Frage und erzählt, dass sie selbst auch Geisteswissenschaftlerin ist und teilweise mit ähnlichen Probleme zu kämpfen hatte. Das Eis ist gebrochen.
Ein Studium im Ausland?
Nun trauen sich auch andere, etwas zu sagen, berichten von ihren Erfahrungen an der Waseda University, einer beliebten und angesehenen Privat-Universität in Tokio. Auch die erste Studentin meldet sich noch einmal zu Wort. "Beim Studium in Japan geht es oft ums Auswendiglernen. In Deutschland wird dagegen viel mehr diskutiert. Das würde ich mir hier auch wünschen."
Viele der Studenten nicken bei diesen Worten zustimmend. Einige von ihnen haben ein Austauschsemester in Deutschland gemacht und kennen beide Bildungssysteme aus eigener Erfahrung. Doch sie sind eher die Ausnahme. "Ich würde mir insgesamt wünschen, dass es mehr Austausch gibt. Das liegt aber an der japanischen Tradition, dass die Studierenden hier nicht so gern ins Ausland gehen", sagt Svenja Schulze. Deutsche Studierende, die nach Japan möchten, gebe es einige. Umgekehrt sehe es anders aus.
"Ich glaube, dass es für japanische Studenten sehr schwierig ist, weil es für sie beruflich mit Nachteilen verbunden ist, wenn sie ins Ausland gehen. Wir müssen versuchen, diese Nachteile abzufedern", sagt die Ministerin. Eine Möglichkeit: Doppelabschlüsse, die auch in Japan anerkannt sind und für die Studenten von Nutzen ist. "Ein gemeinsamer Studiengang ist meiner Meinung nach die Möglichkeit, mit der man diesen Nachteil ausgleichen kann."
Andere Mentalität
Auch das Studium an sich sei sehr unterschiedlich in beiden Ländern, darin sind sich alle einig. Das kann auch Reinhard Zöllner bestätigen. Er ist Professor am Institut für Japanologie und Koreanistik an der Universität Bonn und betreut dort auch Austauschstudenten aus Japan und Südkorea. Seit zwei Jahren gibt es dort einen internationalen Masterstudiengang. Auch deutsche Studenten können sich darüber für einen Aufenthalt in einem der beiden Länder bewerben und dort studieren.
"Nachdenklich, kooperationsbereit und offen für die Zukunft" - so beschreibt Zöllner die typischen Eigenschaften seiner japanischen Studenten. Natürlich könne man nicht verallgemeinern. "Aber im Prinzip kann man sagen, dass japanische Studenten eher ergebnisorientiert studieren. Es geht um das Bestehen von Prüfungen und um gute Bewerbungen für Jobs. Deutsche Studenten gehen dagegen eher prozessorientiert vor und sind sich am Anfang ihres Studiums oft noch gar nicht darüber im Klaren, was sie später im Beruf machen wollen." In Japan ergebe sich die Berufsperspektive auch oft erst im Verlauf des Studiums. Dann aber werde es auch schnell konkret. "Das steht dann oft auch im Zentrum der zweiten Hälfte ihres Studiums."
Zurückhaltung gegen offene Diskussionskultur
Eine knappe Stunde dauert die Diskussion mit den Studenten. "Die Unterschiede in der Mentalität sind groß", fällt auch Svenja Schulze auf. Zurückhaltend und ausgesprochen höflich sind die japanischen Studenten. Anerzogenes Benehmen in der Schule und zu Hause. "Sie äußern ihre Meinung eigentlich erst dann, wenn sie davon überzeugt sind, dass sie genau wissen, worum es geht und sich quasi das Recht erarbeitet haben, eine Meinung zu äußern", erklärt Reinhard Zöllner. Das mache es manchmal mühsam, mit japanischen Studenten zu arbeiten. "Sie sind einfach nicht darauf vorbereitet, sich spontan zu einer Sache zu äußern."
In seinen Seminaren an der Uni Bonn versucht er deshalb, den Studenten aus Japan nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch eine für sie neue Form der Diskussionskultur.
Gesellschaftliche Herausforderungen
Ein paar Stunden später in der Stadt Kyoto, die etwa 400 Kilometer südwestlich von Tokio liegt. Wieder sitzt die Ministerin Schulze mit Studenten zusammen, auf dem Campus der Doshisha-Universität. Es geht unter anderem um ein drängendes Problem, das Japan beschäftigt: die rapid alternde Gesellschaft. Schätzungen zufolge wird schon in wenigen Jahrzehnten die Bevölkerung in Japan um ein Drittel schrumpfen. Gleichzeitig wird der Anteil der Senioren dramatisch ansteigen.
Tomoya Endo, 20 Jahre alt, bereitet der Gedanke daran Sorgen. Er fürchtet sich vor den Konsequenzen des demografischen Wandels für seine Generation. "Mir macht das Angst. Das wird für die heutigen Schüler und Studenten ein großes Problem sein. Ich denke, dass nicht genug Geld für unsere Renten da sein wird."
Solche Gedanken sind typisch für die junge Generation in Japan, erklärt Reinhard Zöllner. Bei vielen herrsche mittlerweile das Gefühl vor, dass die alten Leute in der Gesellschaft den Ton angeben. "Und je mehr Alte es gibt, desto stärker wird auf sie Rücksicht genommen. Das Gefühl, in die zweite Reihe zu geraten, ist unterschwellig bei allen jungen Menschen da." Denn im Vordergrund stünden einfach die ganz persönlichen Zukunftsängste, so Zöllner weiter. "Wie ich einen Arbeitsplatz finden kann, was mit mir passiert und wer für meine Alterssicherung sorgt, das ist die überwiegende Sorge der jungen Generation."
Desinteresse an Politik?
Auch um die Frage, inwieweit sich die Studenten für Politik interessieren, geht es im Gespräch mit NRW-Wissenschaftsministerin Svenja Schulze. Insgesamt ist das Niveau verglichen mit Deutschland immer noch niedriger, sagt der Bonner Japanologe Zöllner. Aber innerhalb der vergangenen fünf Jahre sei das Interesse generationsübergreifend deutlich größer geworden.
Strittige politische Entscheidungen, innenpolitische Entwicklungen und nicht zuletzt das viel kritisierte Krisenmanagement nach der Katastrophe von Fukushima seien die Gründe dafür. "Auch in den letzten Monaten haben sich viele junge Menschen in Widerstandsaktionen gegen die sogenannten Sicherheitsgesetze der jetzigen Regierung zusammengefunden." Schüler und Studenten seien dafür auf die Straße gegangen und hätten auch einige gemeinsame Aktivitäten mit Älteren durchgeführt. "Das ist ein positives Zeichen, völlig unabhängig von der politischen Meinung", sagt Zöllner.
"Ja", er würde mit seiner Mutter über die politischen und sozialpolitischen Probleme im Land sprechen, erzählt Tomoya Endo. "Viele meiner Freunde kümmern sich allerdings nicht so sehr um Politik, verfolgen das eher nicht." Genauso wenig wie sein Vater, berichtet er. "Der interessiert sich nur für Sport." s