"Tell it like it is"
19. November 2010September 2004, ein Benefizkonzert in der Berliner Philharmonie. Der klassische Bassbariton Thomas Quasthoff zeigt eine eher unbekannte Seite. Über sechs Minuten lang variiert er ein Bass-Thema, scattet, imitiert gekonnt Trompete und Schlagzeug, montiert Sprach-Schnipsel und Zungenschnalzer mit gospelähnlichen Gesangspassagen zu einem atemberaubenden Stück Musik, entstanden im Augenblick. Eine Jazz-Improvisation, in der er die ganze Bandbreite seines Könnens ausspielt – Humor eingeschlossen. Und er macht dabei deutlich: Dies hier ist kein klassischer Sänger, der sich mit einem Crossover-Versuch beim Publikum beliebt machen will - dies ist ein echter Jazzer.
"Special guest"
Und das kommt nicht von ungefähr – denn Thomas Quasthoff ist neben der Klassik auch mit Jazz aufgewachsen. Verantwortlich dafür war sein älterer Bruder Michael. Der brachte regelmäßig seine neuesten Entdeckungen aus der Jazz-Abteilung des Plattenladens mit nach Hause, spielte sie dem Jüngeren vor. "Dabei hat mein Bruder immer vorweg gehört",erzählt Thomas Quasthoff. "Während ich noch mit Dixieland und Bix Beiderbecke zugange war, war der schon bei Oscar Peterson und Charlie Parker". Und während der jüngere Quasthoff in seinem Zimmer Tonleitern sang, stellte der Ältere die Geduld der Familie auf die Probe, in dem er sich im Keller auf seinem Saxophon dem Free Jazz hingab. Bald schon stand Thomas Quasthoff bei Auftritten der Jazz-Band seines Bruders als "special guest" mit auf der Bühne und wagte sich auch ans Improvisieren. "Klar, ich bin dann da reingewachsen und liebe es bis heute.
"Wie ein aufgeregtes Huhn"
Jetzt hat Thomas Quasthoff seine Liebe zum Jazz zum zweiten Mal in CD-Form gebracht. "Tell it like it is" heißt das Album, wobei der Sänger Wert darauf legt, dass es sich bei den hier versammelten Stücken nicht nur um Jazz handelt, auch Soul- und Funk ist mit dabei und sogar ein Country-Stück. Dass es auch nach langjähriger Auseinandersetzung mit dem Jazz gar nicht so einfach ist, sich zurückzunehmen, diese Erfahrung machte Quasthoff bei den ersten Live-Auftritten mit seinem neuen Programm. Er sei doch ernüchtert gewesen, als er den ersten Konzert-Mitschnitt hörte. "In manchen Passagen habe ich geklungen wie ein aufgeregtes Huhn" sagt er selbstkritisch. Das sei einfach zuviel des Guten gewesen, zuviel angeraute Stimme und "gemachte" Emotion. Und ihm sei klar geworden, dass ein Stück viel stärker klingt, wenn man sich beim Singen ganz zurücknimmt: "Es geht darum, cool zu klingen, ganz entspannt und relaxt, und dabei doch die eigene Stimme nicht zu verleugnen."
Jazz bereichert die Klassik
Soul-Stücke wie "Have a little Faith in me" oder funkige Nummern wie "Seventh Son" gehören zu Quasthoffs Lieblingssongs auf dem neuen Album. Und natürlich Randy Newmans "Short People", ein Stück, das nach seiner ersten Veröffentlichung 1977 in den USA als zynischer Anti-Behinderten-Song missverstanden wurde. Quasthoff bereitet es eine diebische Freude, gerade dieses Stück mit aufs Album zu nehmen – denn: "wer sollte es singen, wenn nicht ich", sagt er in Anspielung auf seine Körpergröße von 132 Zentimetern. "Randy Newman damals vorzuwerfen, er habe einen diskriminierenden Song geschrieben, war völlig affig" sagt Quasthoff, " Short People bedeutet in der amerikanischen Umgangssprache so etwas wie kleingeistige, engstirnige Menschen – und davon haben wir ja wohl immer noch genug, nicht nur in den USA."
Der Jazz hat auch seine klassischen Interpretationen bereichert. Er habe "ein unheimlich gutes Gefühl für Rhythmus, einen freieren Umgang mit Timing und Phrasierung – und wenn man sich stets mit der hochkomplexen Klassik beschäftigt, dann tut die Reduktion des Jazz einfach gut", meint Quasthoff. Sein Publikum sieht das offensichtlich genauso – denn seit dem Erscheinen hält sich die Aufnahme der Deutschen Grammophon hartnäckig in den Top Five der Jazz Charts.
Autorin: Monika Hebbinghaus
Redaktion: Gudrun Stegen