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Politik

"Jede Meinung wird gewaltsam unterdrückt"

3. November 2016

Seit dem 19. August sitzt die türkische Schriftstellerin Asli Erdogan im Gefängnis. In einem Brief aus der Haft richtet sie einen eindringlichen Appell an Journalisten weltweit, den die DW im Wortlaut veröffentlicht.

Asli Erdogan
Die türkische Schriftstellerin, Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Asli ErdoganBild: Imago

Die türkische Schriftstellerin, Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Asli Erdogan ist seit dem Sommer im Istanbuler Bakirköy-Gefängnis inhaftiert. Der Autorin, deren Bücher ins Deutsche, Französische und Norwegische übersetzt werden, werden Verbindungen zu kurdischen Extremisten vorgeworfen. Erdogan war Mitglied des Beirats der pro-kurdischen Tageszeitung Özgür Gündem. Die Behörden verboten die Zeitung im August. Sie werfen dem Blatt vor, Propaganda für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK zu machen.

Die Deutsche Welle hat einen Brief der Autorin aus der Haft erhalten, der hier im Wortlaut veröffentlicht wird:

Liebe Freunde, Kollegen, Journalisten und Mitarbeiter der Presse,

ich schreibe Ihnen diesen Brief aus dem Bakirköy-Gefängnis, nachdem bei "Cumhuryiet", einer unserer ältesten Zeitungen, der Stimme der Sozialdemokraten, eine Polizeioperation durchgeführt wurde. Mehr als ein Dutzend Autoren [der Zeitung] sitzen derzeit in Haft, vier weitere werden von der Polizei gesucht, darunter der Generaldirektor Can Dündar. Selbst ich war schockiert darüber! Dies ist ein deutliches Zeichen, dass die Türkei sich entschlossen hat, jegliches Recht und den Respekt vor dem Gesetz zu missachten.

Derzeit sitzen mehr als 130 Journalisten [in der Türkei] im Gefängnis - das ist Weltrekord. 170 Tageszeitungen, Zeitschriften sowie Radio- und TV-Sender wurden in den vergangenen zwei Monaten geschlossen. Unsere derzeitige Regierung will die "Realität" und die "Wahrheit" monopolisieren. Jede Meinung, die auch nur ein bisschen von der der Herrschenden abweicht, wird gewaltsam unterdrückt: Schläge der Polizei, Tage und Nächte in Gewahrsam (bis zu 30 Tagen), Gefängnis…

Ich wurde am 19. August festgenommen, nur deswegen, weil ich eine Beraterin der "Özgür Gündem", der "Kurdischen Zeitung" bin. Obwohl Artikel 11 des Pressegesetzes klar sagt, dass Berater keine juristische Verantwortung für eine Zeitung haben, wurde ich bislang vor kein Gericht gestellt, das sich meine Geschichte anhört.

In diesem kafkaesken Prozess wurde gemeinsam mit mir der 70-jährige Linguist und Übersetzer Necmiye Alpay festgenommen und wegen Terrorismus angeklagt.

Dieser Brief ist ein dringender Hilferuf! Die Situation ist drastisch, beängstigend und extrem besorgniserregend. Ich bin überzeugt, dass ein totalitäres Regime in der Türkei ganz Europa erschüttern wird.

Europa, das derzeit auf die "Flüchtlingskrise" konzentriert ist, scheint die Gefahren des totalen Verlusts der Demokratie in der Türkei zu unterschätzen. Jetzt zahlen wir - die Schriftsteller, Journalisten, Kurden, Aleviten und natürlich die Frauen - den hohen Preis für die "Demokratiekrise". Europa sollte Verantwortung übernehmen für die Werte, die es mit dem Blut aus Jahrhunderten definiert hat. Die Werte, die Europa ausmachen: Demokratie, Menschenrechte, Rede- und Gedankenfreiheit…

Wir brauchen Ihre volle Solidarität und Unterstützung. Vielen Dank für das, was Sie bereits für uns getan haben.

Mit freundlichen Grüßen

Asli Erdogan

1.11.2016

Bakirköy Gefängnis, C-9

 

Asli Erdogan, geboren 1967 in Istanbul, studierte Informatik und Physik an der Bosporus-Universität in Istanbul. Von 1991 bis 1993 arbeitete sie als Physikerin am CERN, der Europäischen Organisation für Kernforschung, in der Schweiz. Schon damals schrieb sie literarische Texte. 2010 erhielt Asli Erdogan für ihren Roman "Tas Bin" den Sait-Faik-Preis, den bedeutendsten Literaturpreis der Türkei. Asli Erdogan ist Mitglied des PEN und der türkischen Schriftstellervereinigung. Als Kolumnistin und Beiratsmitglied der kurdischen Tageszeitung "Özgür Gündem" wurde sie im August 2016 in Istanbul verhaftet.