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PolitikNahost

Jemen: Die Not der Flüchtlinge von Marib

Safia Mahdi kk
2. Juni 2021

Die Stadt Marib im Zentrum des Jemen ist zu einem nationalen Anlaufpunkt für Millionen Flüchtlinge geworden. Dennoch nehmen die aufständischen Huthis die Stadt weiter unter Beschuss. Aus Sanaa berichtet Safia Mahdi.

Jemen | As-Suwayda Flüchtlingslager
Warten auf eine ungewisse Zukunft: Szene aus dem Flüchtlingslager As-SuwaydaBild: Ayman Atta/DW

Viel Zeit blieb der Familie von Bassim nicht, das Flüchtlingscamp Al-Tawasul im Westen des Gouvernements Marib zu verlassen. Mitte März hatten die seit Jahren gegen die Regierung in Sanaa kämpfenden Huthis den Mittdreißiger und die anderen dort lebenden Flüchtlinge aufgefordert, das Lager zu räumen. Kurz darauf verstärkten die Rebellen ihre Offensive auf die Region und deren gleichnamige Hauptstadt.

Bassim blieb keine Wahl: Zusammen mit seiner Familie verließ er Marib, und das unter schwierigsten Umständen. Denn wie so viele andere Flüchtlinge verfügte auch seine Familie weder über ein Auto noch sonst ein Fahrzeug, das sie an einen anderen Ort hätte bringen können. So waren sie gezwungen, sich unter stechender Sonne zu Fuß auf den Weg zu machen. Vor allem Bassims Frau und die Kinder litten unter den Strapazen. Nach rund drei Tagen Fußmarsch erreichte die Familie ihre neue Unterkunft in As-Suwayda, einem Flüchtlingslager im Westen von Marib.

Ödnis in Staub: Aufnahme aus dem Flüchtlingslager As-Suwayda Bild: Ayman Atta/DW

Lange Zeit waren die im Zentrum des Landes gelegene Stadt Marib und die gleichnamige Provinz eher unbedeutende Orte. Eine gewisse Bekanntheit hatten sie lediglich dank ihrer Erdölraffinerie. Doch nachdem die Huthis bereits kurz nach Beginn ihres Aufstands im Jahr 2014 die damalige Hauptstadt Sanaa unter ihre Kontrolle brachten, wurde die Stadt Marib für die ohnehin stark bedrängte Regierung zu einer ihrer wichtigsten Bastionen, faktisch sogar fast zu einer Art zweiten Hauptstadt. So hat dort etwa das Verteidigungsministerium seinen Sitz. Fiele Marib an die Huthis, wäre das für die Aufständischen nicht nur ein militärischer sondern auch ein bedeutsamer symbolischer Triumph.

Das Leid der Flüchtlinge

Einen solchen Triumph scheinen die Rebellen mit allen Mitteln erzwingen zu wollen. Ihre vor einem Jahr begonnene Offensive auf Marib haben die "Ansar Allah" (Helfer bzw. Anhänger Gottes), wie die Huthis sich nennen, im Frühjahr noch einmal intensiviert. Abschrecken konnte sie offenbar nicht einmal der Umstand, dass sie bei den Angriffen auf die Stadt ihrerseits selbst tausende Kämpfer verloren. Diese ersetzen sie Medienberichten zufolge auch auch durch Kindersoldaten. Mohammed Ali al-Huthis, Präsident des sogenannten Revolutionskomitees der Rebellen, erklärte kürzlich, man werde den Kampf fortführen, bis Marib gefallen sei.

Unter der Offensive leiden ganz besonders die Flüchtlinge. Marib ist im Jemen zur wichtigsten Anlaufstelle für Binnenvertriebene geworden. Angaben der jemenitischen Behörden zufolge suchen dort bereits über zwei Millionen Flüchtlinge Schutz, verteilt auf rund 140 verschiedene Lager. Geflohen sind sie aus unterschiedlichen Gründen: Einige sind von den Huthis vertrieben worden, andere haben durch deren Machtübernahme ihre Lebensgrundlage verloren, wieder andere sind Familienangehörige von Soldaten der jemenitischen Armee.

Die Flüchtlinge befänden sich in einer schwierigen Lage, sagt Abdul Razzaq Mohammed, auch er ein Flüchtling im eigenen Land. Die Kämpfe zwischen den Regierungstruppen und den Huthis hätten sich so sehr ausgeweitet, dass die Flüchtlinge kaum wüssten, wohin sie sich wenden sollten. Nachdem im März eine Rakete der Huthis in der Nähe seiner Wohnung einschlug, sah sich auch Mohammed gezwungen, seine Heimatstadt Marib zu verlassen.

Millionen von Hunger bedroht

Kämpfen ohne Rücksicht: Rebellen der Huthis, 2017Bild: picture alliance/dpa/H. Al-Ansi

Während die Intensität der Kämpfe in Teilen der Region unverändert fortbestehe, habe sie in anderen Teilen kontinuierlich zugenommen, sagt Olivia Headon, Sprecherin der Internationalen Organisation für Migration (IOM), im DW-Gespräch. Diese Eskalation habe die Zahl der Flüchtlinge noch einmal nach oben getrieben. So habe die IOM im Regierungsbezirk Marib seit Februar 2021 knapp 3000 vertriebene Familien - insgesamt über 20.000 Menschen - registriert. Von noch höheren Zahlen gehen die jemenitischen Behörden aus. Ihren Berechnungen zufolge wurden allein zwischen Februar und April dieses Jahres knapp 3450 Familien vertrieben.

Die Lage könnte sich noch weiter zuspitzen, sagt Najeeb al-Saadi, Verwaltungsdirektor der Flüchtlingslager im Jemen. "Angesichts des Vorstoßes der Huthis könnten sich noch mehr Menschen zur Flucht entschließen. Bereits jetzt konzentrieren sich in Marib so viele Binnenflüchtlinge wie in keiner anderen Region des Jemen", so al-Saadi gegenüber der DW. Insgesamt befinden sich von den gut 29 Millionen Bewohnern des Landes laut Angaben der Vereinten Nationen (UN) vier Millionen auf der Flucht. Von diesen, warnen die UN, sind 2,6 Millionen nur knapp von einer Hungersnot entfernt. Eine Geberkonferenz der UN Ende Februar blieb jedoch unter den selbst gesetzten Erwartungen.

Besonders betroffen von dem Krieg sind die Jüngsten. So befürchten die UN, dass die Zahl der schwer unterernährten Kinder im Jemen im Vergleich zum Vorjahr um 22 Prozent steigen könnte - auf dann 2,3 Millionen Kinder im Alter unter fünf Jahren. Im schlimmsten Fall könnten 400.000 Kinder verhungern, so die Befürchtungen.

"Angst und Schrecken"

All dies hält die Huthis nicht davon ab, ihren Eroberungszug mit größter Gewalt fortzusetzen. "Sie beschießen die Lager und Wohngebiete der Vertriebenen weiterhin, sei es durch direktes Bombardement, durch Raketen oder Drohnen", klagt Regierungsvertreter al-Saadi. Ähnliche Vorwürfe machen internationale Menschenrechtler freilich regelmäßig auch der Regierungsseite und dem sie unterstützenden Saudi-Arabien. Auch hier werden Zivilisten kaum verschont.

Die Situation sei besorgniserregend, so al-Saadi. "Die Sicherheit der Menschen kann nicht mehr gewährleistet werden." Hinzu komme der psychische Stress. "Einige Flüchtlinge sind bereits zum vierten, fünften Mal vertrieben worden." Die Menschen hätten eine regelrechte Odyssee hinter sich. "Und nun wissen sie nicht, wie ihre Zukunft aussehen wird."

Not eines ganzen Landes: Wasserverteilung in SanaaBild: Farouk Moqbel

Die Not der Flüchtlinge könnten die vor Ort engagierten Hilfsorganisationen nur in Teilen lindern, sagt IOM-Sprecherin Olivia Headon. Zwar unterhält die IOM ein humanitäres Zentrum, das die Aktivitäten der einzelnen Partner koordiniert. Trotzdem gehe man davon aus, dass sich die Kluft zwischen Bedarf und geleisteter Hilfe in den kommenden Monaten weiter vergrößern werde, so Headon. Zwar versorgten die Helfer die Flüchtlinge so gut wie möglich mit Lebensmitteln, Zelten und den notwendigen Sanitäreinrichtungen. Doch übersteige der Bedarf die Hilfe.

Politische Einigung nicht in Sicht

Politisch ist die Situation um Marib verfahren. Zwar haben sowohl der Sondergesandte der Vereinten Nationen für den Jemen, Martin Griffiths, als der US-Gesandte Tim Lenderking Gespräche mit den Kriegsparteien vor Ort geführt - bislang allerdings vergeblich: Die Treffen endeten ohne konkrete Ergebnisse. Im Februar hatte US-Präsident Joe Biden der saudischen Regierung die Unterstützung für deren militärisches Engagement im Jemen entzogen. Ebenso hatte er erklärt, seine Regierung werde die Huthis nicht länger als Terrororganisation führen. Damit hatte er den verfahrenen Dialog rund um den Jemen wieder in Gang bringen wollen. Doch diese Politik scheint gescheitert, die Huthis fühlen sich durch den Kurs der neuen US-Regierung offenbar ermutigt, die Kämpfe auszuweiten. Viele ihrer Landsleute sind derweil weiter im Inland auf der Flucht.

Aus dem Arabischen adaptiert von Kersten Knipp.