1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
LiteraturDeutschland

Jenny Erpenbeck gewinnt den International Booker Prize

22. Mai 2024

Ihre literarische Stimme hat internationales Gewicht: Jetzt hat die deutsche Autorin Jenny Erpenbeck für ihren Roman "Kairos" zusammen mit ihrem Übersetzer Michael Hofmann den britischen Literaturpreis gewonnen.

Eine lachende Frau hält ihren Preis in der Hand.
Jenny Erpenbeck freut sich über ihre internationalen TrophäeBild: DAVID CLIFF/EPA

In Deutschland fragt sich angesichts der Auszeichnung jetzt so mancher Leser: "Jenny wer?" Dabei ist Jenny Erpenbeck im Ausland schon lange ein Star. Ihre Bücher wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt, sie hat Fans von Mexiko über Usbekistan bis Indien, ihr Werk wurde mit Preisen überhäuft. Und jetzt also der International Booker Prize für "Kairos" - der renommierte britische Literaturpreis, mit dem fremdsprachige Werke, die ins Englische übersetzt wurden, ausgezeichnet werden. Die Jury nennt das Buch, übersetzt von Michael Hofmann,  "außergewöhnlich", weil es "sowohl schön als auch unangenehm ist, persönlich und politisch."

Prämiert: "Kairos" - ein Buch über den Untergang der DDR

Die Auszeichnung wird Jenny Erpenbeck in ihrer Heimat endlich mehr Aufmerksamkeit bescheren. Es ist nicht so, dass sie in Deutschland eine Unbekannte wäre - im Gegenteil. Sie hat eine treue Leserschaft, und fast jedes Jahr darf sie sich über einen neuen Literaturpreis freuen. Auch ihr 2021 erschienenes Buch "Kairos" wurde schon prämiert. Allerdings wurde dieses international gefeierte Werk weder mit dem renommierten Preis der Leipziger Buchmesse oder dem wichtigen Büchner-Preis  noch dem Deutschen Buchpreis geadelt - noch nicht mal nominiert war es.

"Ostdeutsche" Probleme

Vielleicht stimmt es ja, was Jenny Erpenbeck vermutet: Ihrem Gefühl nach ist die Mauer zwischen der DDR und dem Westen Deutschlands nie wirklich gefallen, eine westliche Kulturhoheit bestimme die Diskurse.

Jenny Erpenbeck, Jahrgang 1967, ist Ostdeutsche, sie nennt sich selbst "Ostlerin".  Als die Mauer fiel, war sie 22. Sie weiß, wie sich der Zerfall der DDR anfühlte, den sie in "Kairos" so eindringlich beschreibt. Auch sie fand sich in einem neuen Land wieder: der Bundesrepublik Deutschland - und unter Westdeutschen, die sich wenig für die Geschichte der DDR interessierten.In ihrem Buch "Kairos" geht es um den Niedergang der DDR. Die geringe Resonanz in Deutschland auf das Buch sei kein Zufall, sagte sie gegenüber der Zeitschrift "Die Zeit", denn in den Buchpreisjurys des Kairos-Jahrgangs sei kein einziges Mitglied ostdeutscher Herkunft gewesen. Daher sei ihr Buch wohl nicht berücksichtigt worden. 

Jenny Erpenbeck in ihrem ArbeitszimmerBild: picture alliance/dpa

Der Untergang der bekannten Welt

"Kairos" erzählt die Geschichte einer toxischen Liebe vor dem Hintergrund der untergehenden DDR - zwischen einer jungen Frau und einem 34 Jahre älteren Mann, einst Faschist in Nazideutschland, jetzt überzeugter Kommunist. Es ist auch die Geschichte von Kunstschaffenden in der DDR - in einem Staat, in dem die Zensur allgegenwärtig war, mussten sie Kritik "zwischen den Zeilen" verstecken. "Denn Kunst (...) war darüber hinaus vielleicht das einzige Kommunikationsmittel, über das Verständigung innerhalb der Gesellschaft noch möglich war. Wenn man die Zeitung aufgeschlagen hat, war das ja eine ganz unwirkliche Sprache", so Erpenbeck 2022 gegenüber der DW.

Jenny Erpenbeck ist im Ausland bekannter als in ihrer Heimat.Bild: Fredrik Sandberg/picture-alliance

Am Ende des Romans blickt das Liebespaar nicht nur auf die Scherben seiner Beziehung, sondern auch auf die Ruinen einer vier Jahrzehnte lang gefeierten Utopie, der eines sozialistischen deutschen Staates. Ein Erdbeben, das ihr Selbstverständnis von Grund auf erschüttert. "Was vertraut war, ist im Verschwinden begriffen. "Das gute, üble Vertraute", lässt Erpenbeck ihre Protagonistin sagen.

Sie weiß, wie sich der Zerfall der DDR anfühlte, den sie so eindringlich beschreibt. 2018 verfasste sie ein Essay für die Frauenzeitschrift "Emma", darin heißt es: "Von Freiheit war plötzlich viel die Rede, aber mit diesem Begriff Freiheit, frei schwebend in allen möglichen Sätzen, konnte ich wenig anfangen. Reisefreiheit? (Aber wird man die Reisen denn auch bezahlen können?) Oder Meinungsfreiheit? (Und wenn meine Meinung dann niemanden mehr interessiert?) … Die Freiheit war ja nicht geschenkt, sie hatte einen Preis, und der Preis war mein gesamtes bisheriges Leben. Der Preis war, dass das, was sich eben noch Gegenwart genannt hatte, nun Vergangenheit hieß…. Meine Kindheit gehörte von nun an ins Museum."

"Wir Ostdeutschen sind umbruchgeschädigt"

Für sie, wie für viele DDR-Bürger, tat sich die Frage auf: Wer sind wir und wohin geht die Reise? Im Interview mit dem deutschen Journalisten Gabor Steingart sagte sie, die Zeit, in der die DDR-Bürger nach ihrer friedlichen Revolution endlich selbstbestimmt handeln konnten, sei viel zu kurz gewesen. Nach nur acht Wochen habe die Wiedervereinigung festgestanden. Und sehr schnell war klar: Es gab keine gleichberechtigten Partner.

Niemand habe sich berufen gefühlt, den DDR-Bürgern die Angst davor zu nehmen, sie seien Deutsche zweiter Klasse gewesen. Das wirke bis heute nach, sagt Jenny Erpenbeck, die ihre ostdeutschen Landsleute als "umbruchgeschädigt" bezeichnet; viele hätten immer noch das Gefühl, sie seien nicht so beteiligt an dem Land. Das zeige sich auch in den Führungsetagen von Unternehmen, Bildungseinrichtungen und Medien, die immer noch größtenteils in westlicher Hand seien.

Die Euphorie über die Deutsche Einheit währte nicht langeBild: dpa/picture alliance

Gegenseitiges Interesse fehlt 

Erpenbeck greift in ihren Büchern Themen auf, die die Menschen in den "neuen" Bundesländern bewegt  - etwa die Schicksale der ehemaligen Sowjetbürger in der DDR. Denen ist Erpenbeck näher als den Wirren der 1968er Studentenrevolten in der damaligen Bundesrepublik. 

So durchzieht die DDR-Geschichte Erpenbecks literarisches Werk wie ein roter Faden.Bei der Autorin hingegen zieht die DDR-Geschichte literarisches Werk wie ein roter Faden. Ihr Debüt erschien 1999: "Geschichte vom alten Kind". "Ein Mädchen wird gefunden, niemand weiß, woher es kommt, niemand weiß, wer seine Eltern sind. Niemand, auch das Kind selbst nicht. Es ist übrig", ist auf dem Klappentext zu lesen. Viele sahen in der Novelle eine Parabel auf DDR-Bürger, die seit dem Ende ihres Staats diese starke Orientierungslosigkeit verspürten.

Motiv der Vergänglichkeit allgegenwärtig

Immer wieder beschäftigt sich Erpenbeck in ihren Romanen mit dem Motiv der Vergänglichkeit. In"Heimsuchung" durchleben die Bewohner eines Hauses gleich mehrere Umbrüche: die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus im Dritten Reich, den Zweiten Weltkrieg und dessen Ende, die DDR, die Wende und die Zeit danach. 

"Heimsuchung" von Jenny Erpenbeck

01:50

This browser does not support the video element.

Erpenbecks Bestseller "Gehen, ging, gegangen" über die hoffnungslose Situation von Flüchtlingen in Berlin war 2015 unter den heißen Kandidaten für den Deutschen Buchpreis.

In dem Roman "Aller Tage Abend" stirbt ein Säugling, und Erpenbeck fragt: Was wäre gewesen, wenn das Kind überlebt hätte? Gleich mehrfach erweckt sie es zum Leben: als halbjüdisches Mädchen, als Kommunistin, die vor den Nazis aus Österreich nach Moskau flieht (eine Anspielung auf ihre eigene Großmutter) oder als gefeierte Autorin in der DDR. Mit diesem Buch - bzw. der englischen Fassung "The end of Days" - gewann Erpenbeck 2015 zusammen mit der Übersetzerin Susan Bernofsky schon einmal den Booker Prize - nur dass er damals noch "Independent Foreign Fiction Prize" hieß.

Die Zeitschrift "New Yorker" sieht Jenny Erpenbeck als zukünftige LiteraturnobelpreisträgerinBild: picture alliance/dpa

Den Buchtitel "Kairos" hat Jenny Erpenbeck der griechischen Mythologie entlehnt. "Kairos" ist dort der Gott des günstigen Zeitpunkts. Vielleicht war das ja ein gutes Omen.

40 Jahre Demokratie-Vorsprung

"Kairos" nun beschreibt menschliche Schicksale vor dem Hintergrund großer Politik. Dieses immer noch nicht Zusammengewachsene, diese hartnäckige Kluft zwischen Ost und West wird in diesen Tagen besonders spürbar, da das deutsche Grundgesetz 75 Jahre alt wird. Genauer: Die Bundesrepublik gab sich mit dem Grundgesetz 1949 eine demokratische Verfassung. Die untergegangene DDR nahm sie 1990 mit der Wiedervereinigung an. Aus einer Diktatur wurde über Nacht ein Staat, der Demokratie erst "lernen" musste.

Dieser Artikel ist am 22. Mai aktualisiert worden. 

Den nächsten Abschnitt Mehr zum Thema überspringen