Jetsün Khandro Rinpoche im Interview
13. September 2016DEUTSCHE WELLE: Die Welt scheint aus dem Ruder zu laufen. Leben wir in einem Zeitalter, in dem nur noch der eigene Vorteil zählt?
KHANDRO RINPOCHE: Ego und Selbstbezogenheit hat es schon immer gegeben. Aber was wir gerade in diesem Jahrhundert erleben, ist noch übertriebener als je zuvor. Und ich glaube, eine der Ursachen für diese außergewöhnliche Selbstbezogenheit und das übertriebene Ego liegt in unserer Gesellschaft, die sich von einer Gemeinschaft zu einer individualistischen Gesellschaft verändert hat – in der man seinen Lebensstil nur noch an seinen Pläne und Absichten und seinem eigenen Selbst als dem Allerwichtigsten ausrichtet. Und das wirkt sich psychologisch beim Menschen allmählich so aus, dass er sein Selbst als den Mittelpunkt des Daseins sieht, als den Mittelpunkt von allem.
DW: Was läuft da schief in der Gesellschaft?
KHANDRO RINPOCHE: Alles ist sehr mechanisch geworden. Irgendjemand sagt dir, wie dein Leben aussehen sollte. Und alle machen einander nach - statt dass sich ein Gefühl von Bewusstheit, von Menschlichkeit, von echtem menschlichem Potenzial entwickeln könnte. Und wenn man dieses Potenzial, diese Fähigkeiten in sich selbst, nicht erkennt und stattdessen lieber anderes nachmacht und sich von sozialen Normen leiten lässt – oder was auch immer gerade angesagt, modern und beliebt ist – dann, glaube ich, entfernt man sich von dem, der man wirklich ist.
DW: Aber warum ist es denn so schlimm, etwas haben zu wollen?
KHANDRO RINPOCHE: Es gibt konstruktives und destruktives Verlangen. Konstruktives Verlangen ist eher ein Streben - etwas zu wollen. Wenn es konstruktiv ist, dienen wir den anderen. Wissenschaftler würden vermutlich sagen, das sei das, was Evolution ermöglicht – etwas entsteht daraus, ja sogar Erfindungen, Entwicklung und Fortschritt. Es entsteht aus dem Verlangen heraus, erfolgreich zu sein oder eine Idee zu vollenden.
Bei destruktivem Verlangen jedoch überlagert die extreme Selbstdarstellung und das hohe Eigeninteresse jegliches Bewusstsein dafür, inwieweit andere davon betroffen sein könnten. Sehen wir uns nur Kriege an - oder die sinnlose Gewalt und den Hass und das Misstrauen, das in der heutigen Zeit so verbreitet ist. Das ist destruktives Verlangen - wenn man will, dass nur man selbst glücklich oder erfolgreich ist.
DW: Die destruktive Variante ist ziemlich weit verbreitet…
KHANDRO RINPOCHE: Das hat mit Gier und Ignoranz zu tun: Kurzfristiger eigener Nutzen. Ein Beispiel: In Indien trifft man manchmal auf Leute, die Müll aus dem Fenster werfen. Die Straßen mögen total zugemüllt sein, aber sobald man die Tore öffnet, findet man tadellosen Rasen, ordentliche und hübsche Gärten und schöne, saubere Häuser vor. Aber kaum haben sie ihre Häuser verlassen, schon spucken sie auf den Boden, werfen etwas weg oder verschmutzen die Umwelt. Und diese Mentalität haben viele von uns, solange es uns gut geht, wir uns wohl fühlen und unser Umfeld geschützt ist.
Diese Selbstbezogenheit entfernt uns von globaler Verantwortung – davon, zu erkennen, dass alles was wir tun, eine Auswirkung auf andere Menschen und auf die Umwelt hat. Es ist also eine sehr lineare, egoistische Sichtweise, die nicht gut für uns ist. Und das ist wahrscheinlich der Grund, warum wir so viele Probleme haben.
DW: Viele sind eben der Meinung, der Einzelne könne ohnehin nichts ändern….
KHANDRO RINPOCHE: Viele Menschen sind sich in gewisser Hinsicht all dessen bewusst, aber dann ist da diese Hilfslosigkeit. Dieses „Was kann ich denn tun?“ und nicht sehen, dass Eigenverantwortlichkeit wirklich sehr hilfreich sein kann. Alle denken so eingleisig, immer nur an den Einzelnen. So ist eben die individualistische Gesellschaft...
Dieser Sinn von Gemeinschaft, das Bestreben, die Welt zu formen, die Gemeinschaft und die Gesellschaft mitzugestalten, „Ich bin Teil des Ganzen“ – dieses Gefühl wird heutzutage ohne jeden Zweifel vernachlässigt.
DW: Was wäre denn Ihr Rezept gegen die Gleichgültigkeit?
KHANDRO RINPOCHE: Die buddhistische Lehre schlägt vor, Wechselbeziehungen zu schätzen, ein anderes Bewusstsein zu entwickeln, ein Gefühl der Achtsamkeit, das einen schließlich in die Lage versetzt, alles schöner zu machen. Und wenn nicht schöner, dann zumindest nicht hässlich oder schädlich. Das erfordert viel „Innenschau“. Aber wenn diese Innenschau ständig unterbrochen wird durch die enorme Geschäftigkeit der Außenwelt - das macht es einem dann sehr viel schwerer, achtsam zu sein.
Man schenkte uns ein Leben mit so großem Potenzial, und vor allem hat man die Freiheit seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Wenn man darüber hinaus auch noch das Verständnis von Wechselbeziehungen hätte, dann könnten die Entscheidungen, die man im Leben trifft, konstruktiv sein und einen selbst und auch andere glücklich machen.
DW: Wie konnte sich der Materialismus so ausbreiten?
KHANDRO RINPOCHE: Wo auch immer der Materialismus und eine gefühllose und gleichgültige Einstellung vorherrschen, können wir feststellen, dass das Bildungssystem einen großen Anteil daran hat. Die Schulen und Universitäten, ja die ganze Erziehung beeinflusst die Denkweise. Wenn man also die Erziehung darauf auslegt, dass Erfolg der einzige Weg ist, glücklich zu sein, oder dass nur der erfolgreich ist, der sich Sachen anschafft und dass man um jeden Preis erfolgreich sein muss… Wenn diese Denkweise so tief verinnerlicht ist, dann ist es sehr schwer für Menschen, sich sehr viel tieferer Dinge bewusst zu werden wie Zufriedenheit, Einfachheit und Demut. Ich glaube wirklich, dass die Erziehung, und zwar nicht nur die spirituelle, nein, eine Erziehung zur Menschlichkeit, von entscheidender Bedeutung ist.
DW: Können das Schulen überhaupt leisten?
KHANDRO RINPOCHE: Es gibt keinen Lehrplan für Mitgefühl. Aber ich denke, dass man das ab sehr jungem Alter in Schulen und auch in der Familie lernen kann. Wenn es eine Art Gespür für das Leiden der anderen, aber auch für das eigene Glück und das eigene Leiden gäbe, dann wäre das eine gute Grundlage der Selbstreflektion, dass andere die gleiche Sehnsucht nach Glück haben und dass sie auch nicht leiden wollen… Ich glaube, das sollte in Bücher, in Gesprächen und ganz besonders in vorgelebten Beispielen weitervermittelt werden. Eltern müssen Beispiele sein, lebende Beispiele für Liebe und Mitgefühl. Lehrer müssen natürlich ebenfalls lebende Vorbilder für all das sein. Und ich denke, das ist nicht in einem Semester zu schaffen sondern es ist eine ganze Kultur, die fortwährend dafür eintreten muss.
DW: Und wie könnte man den Kindern diese Werte vermitteln?
KHANDRO RINPOCHE: Sehr hilfreich ist es, Kinder aus ihrer eigenen Welt herauszuholen – und ihnen zu zeigen, wie andere Menschen leben. Sie andere Lebensbedingungen erfahren zu lassen, die nicht wie die eigenen sind. Dieser direkte Zugang, also dass sie es mit eigenen Augen sehen – das ist sehr wichtig. Leider gibt es gerade dort, wo Materialismus und Konsum so ausgeprägt sind, die Tendenz, alles zu verbergen.
Ich komme aus Indien – und ich denke Indien ist in dieser Hinsicht ein wunderbarer Ort, weil alles sehr offen zutage tritt. Jeder Aspekt von Schmerz, Leid oder Hässlichkeit ist sehr gut sichtbar und nicht versteckt. Wenn es also diese Art von Zugang gibt, dann wachsen Kinder auf und wissen, dass es verschiedene Lebenswelten gibt; dass die einen vielleicht unbeschwert leben können und andere weniger glücklich sind – und daraus kann dann ein Gefühl der Anteilnahme entstehen.
Es ist schade, dass junge Leute in vielen Ländern der entwickelten Welt das nicht erleben. Denn wo immer man hinsieht, sieht man fast nur Menschen, die etwas haben. Man sieht einfach keine Menschen, denen das Wichtigste fehlt, wie zum Beispiel sauberes Trinkwasser. Eltern sollten ihren Kindern, wo und wann auch immer sie die Möglichkeit dazu haben, andere Lebensbedingungen zeigen – das, denke ich, wäre eine sehr nützliche Erziehung.
DW: Aber möchte man nicht oft verzweifeln in Anbetracht der globalen Probleme?
KHANDRO RINPOCHE: Eigentlich gibt es viel Hoffnung. Es gibt keinen Grund, so pessimistisch zu sein. Damit etwas wirklich Gutes entstehen kann, muss es einen „Sättigungspunkt“ geben. Ich bin recht optimistisch, denn ich glaube wirklich, wenn es diesen extremen Materialismus gibt, gibt es auch die Hoffnung, dass eines Tages der Punkt erreicht wird, an dem man es satt hat. Dann begreift man auch, dass das so nicht funktioniert.
Und vielleicht wird das der erste Schritt sein, der dazu führt, sich viel intensiver damit auseinander zu setzen - und nicht so sehr Antworten in der Außenwelt zu suchen als vielmehr tief in seinem Inneren.