Der Hunger der Eisbären
1. Februar 2018Wer den ganzen Tag durch Schnee und Eis stapft, wird hungrig – da geht es Eisbären nicht anders als Menschen. Und: Je länger die Strecken, desto größer der Hunger.
Um in der kalten, kargen Arktis überleben zu können, fressen die Raubtiere Ringelrobben und andere Meeressäugetiere. Und ihr Nahrungsbedarf ist höher als gedacht: Eisbären brauchen laut einer Studie 1,6 mal so viel Energie wie Wissenschaftler noch in den 1990er Jahren angenommen hatten. Das berichten Forscher am US Geological Survey in Anchorage und an der University of California at Santa Cruz im Journal "Science".
Unfreiwillige Wanderschaft
Die Tiere haben mit dem schwindenden Packeis zu kämpfen, vermuten die Autoren der Studie: Sie müssen größere Strecken überwinden, um Beute zu finden. Einer Studie der US-Universität von Colorado nach schwindet das Meereis jedes Jahrzehnt um 14 Prozent.
Da sie weitere Strecken zurücklegen, müssen die Bären mehr fressen. "Sie müssen eine Menge Robben fangen", sagt Anthony Pagano, Doktorand an der UC Santa Cruz und Erstautor der Studie in einer Pressemitteilung der Universität. Ein Eisbär braucht demnach eine erwachsene Ringelrobbe oder 19 Robbenbabys alle zehn bis zwölf Tage.
Bären beim Jagen zusehen
Die Wissenschaftler legten neun Eisbärinnen Halsbänder mit GPS und Videokameras um und beobachteten die Tiere acht bis elf Tage lang, jedes Jahr, über drei Jahre hinweg. Die Bären lebten alle auf dem Meereseis der Beaufortsee in Alaska. Anhand der GPS-Daten sahen die Forscher wie weit die Bären wanderten, die Videokamera nahm auf, ob und wie viele Robben sie fangen und fressen konnten.
Um den Energieverbrauch der Tiere zu messen, wurde ihnen Wasser mit markierten Wasserstoff- und Sauerstoffisotopen injiziert. Indem sie das Blut der Tiere zu Beginn und zum Ende eines Zeitraums untersuchten, konnten die Forscher das produzierte Kohlendioxid und damit die Geschwindigkeit des individuellen Stoffwechsels errechnen. Das Ergebnis lautet: "Immer mehr Bären können ihren Energiebedarf nicht decken."
Fünf der neun untersuchten Raubtiere verloren innerhalb der beobachteten acht bis elf Tagen rund zehn Prozent ihres Körpergewichts. "Mehr Bewegung, verursacht durch den Verlust an Meereis, wird sich wahrscheinlich negativ auf den Fortpflanzungserfolg der Eisbären auswirken, und letztendlich auch auf ihren Bestand", schlussfolgern die Forscher.
Erderwärmung größte Gefahr
Dass der Klimawandel die Eisbären hart treffen könnte, ist keine Überraschung: Schon lange warnen Naturschützer, dass die Eisbären bei schwindendem Meereis nur schwer auf Jagd gehen können. Lange Zeit glaubte man, die Tiere könnten ihren Stoffwechsel ganz einfach herunterfahren und in eine Art 'wandernden Winterschlaf' gehen, sobald das Fressen knapp wird. Seit 2015 weiß man aber, dass das nicht stimmt.
Der WWF warnt, bis zum Jahr 2050 könnten zwei Drittel der Eisbären verschwunden sein. Erst wenn die Treibhausgasemissionen endlich gedrosselt würden, habe die Tierart überhaupt noch eine Chance. Laut Weltnaturschutzunion IUCN gibt es derzeit noch etwa 26.000 Eisbären. Die Art ist als "gefährdet" gelistet. IUCN-Experten schätzen, dass der Bestand um 30 bis 50 Prozent sinken könnte, wenn das Meereseis weiter zurückgeht.
Noch nicht vorbei
Die neuen Daten mögen Grund zur Besorgnis sein, aber sie bedeuten nicht automatisch das Ende für die Eisbären, kommentiert Jörns Fickel, Evolutionsgenetiker am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin. "Man kann aus der Studie nicht schlussfolgern, dass die Eisbären aussterben werden", sagt er gegenüber der DW. "Ich bin noch immer optimistisch für die Art."
Aus evolutionärer Sicht bedeute ein Verlust an Körpermasse nicht notwendigerweise, dass der Bestand der Bären unerholbar einbrechen werde, betont Fickel. "In einer Population gibt es immer Individuen, die mit Veränderungen besser oder schlechter klarkommen als andere." Immerhin hätten vier der neun Bären während des Untersuchungszeitraums nicht abgenommen.
Eisbären sind evolutionär gesehen schon sehr alt: Die Art ist vor etwa 600.000 Jahren entstanden. Sie hätten bereits mehrere Warmperioden in der Erdgeschichte überstanden und es sei möglich, dass sie sich an eine wärmer werdende Welt anpassen könnten, sagt Fickel – zumindest, so lange es noch genug Robben gibt.
"Wenn man sieht, wie große Gletscherblöcke abbrechen und wie die Eisdecke zurückgeht, dann finde ich das schon besorgniserregend", fügt er hinzu. "Aber das ist nur mein Bauchgefühl." Als Wissenschaftler hält er sich strikt an eine Regel: Prognosen – zum Beispiel ob Eisbären aussterben werden oder nicht – müssen sich auf verlässliche Daten stützen, "und die gibt es für die Eisbären einfach noch nicht."
So lange besteht für die größten Bären der Welt noch Hoffnung.