Joachim Gaucks schöner Sonntag
19. März 2012 Der Kandidat Joachim Gauck sitzt in der ersten Reihe auf der Besuchertribüne. Zu seiner Linken hat Daniela Schadt Platz genommen, Gaucks Lebensgefährtin. Rechts von ihm beobachtet Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, das Geschehen im prall gefüllten Plenarsaal des Bundestages. Der künftige Bundespräsident befindet sich also schon zu Beginn der Bundesversammlung in staatstragender Umgebung. Gut zwei Stunden später werden ihn 991 Wahlfrauen und -männer zum Nachfolger Christian Wulffs gewählt haben.
Gauck ist nun endlich erster Mann im Staat, und die Erwartungen an ihn sind "riesig", wie der Parlamentspräsident Norbert Lammert in seiner Eröffnungsrede sagt. Der Christdemokrat ist bekannt für seine nachdenklichen, geschliffenen Formulierungen, sein Wort hat Gewicht. Es ist kein Zufall, dass Lammert über Parteigrenzen hinweg Respekt genießt. Und er trifft auch an diesem 18. März den richtigen Ton. Allen war klar, dass Lammert auf Gaucks Amtsvorgänger Christian Wulff eingehen würde. "Die Umstände des Rücktritts und die Gründe, die dazu geführt haben, werden erst mit angemessenem Abstand zu den Ereignisse fair zu bewerten sein", sagt Lammert.
Die Bedeutung des Wörtchens "fair"
Die Betonung liegt auf dem kleinen Wörtchen "fair". Denn natürlich sind die Umstände und Gründe weitestgehend bekannt. Wulff trat im Februar nach nur 20 Monaten Amtszeit zurück, weil ihm Vorteilsnahme im Amt während seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident vorgeworfen wird. Was an diesen Vorwürfen richtig ist und was falsch, ist letztinstanzlich ein Thema für die Justiz. Die Ermittlungen über angeblich unzulässige Vergünstigungen bei der Vergabe von Krediten oder Urlaubsreisen mit befreundeten Unternehmern laufen.
Norbert Lammert vermeidet klugerweise, auf Details der Wulff-Affäre einzugehen. Der Parlamentspräsident belässt es bei nachdenklichen Anmerkungen. Es gehe auch um das Verhältnis von Amt und Person, um Erwartungen an Amtsträger. Der Satz gilt im Rückblick genauso für Ex-Präsident Wulff, wie er als mahnende Bitte auf seinen Nachfolger Gauck gemünzt ist. Nicht nur auf ihn persönlich, sondern auch die Art des Umgangs der Öffentlichkeit mit ihm. Lammert meint damit ausdrücklich auch die veröffentlichte Meinung, also die Medien. Es gebe durchaus Anlass für selbstkritische Betrachtungen. "Manches war bitter, aber unvermeidlich. Manches war weder notwendig noch angemessen, sondern würdelos", sagt der Parlamentspräsident unter dem Beifall der Wahlleute wie der Zuschauer auf den Tribünen im Berliner Reichstagsgebäude.
Die Gegenkandidatin sitzt im Plenum
Nach dieser ungewöhnlich langen, aber eben auch notwendigen Rede eröffnet Lammert den ersten Wahlgang. Außer Joachim Gauck kandidiert die von den Linken nominierte Beate Klarsfeld, die mitten im Plenum zwischen dem Parteivorsitzenden Klaus Ernst und dem Chef der Bundestagsfraktion, Gregor Gysi, Platz genommen hat. Die aus Berlin stammende Deutsch-Französin, die sich über Jahrzehnte als Nazi-Jägerin einen Namen gemacht hat, darf sich später über einen Achtungserfolg freuen: Mit 126 Stimmen erhält sie drei mehr, als die Linke Wahlleute in der Bundesversammlung hat. Der Historiker Olaf Rose, Kandidat der rechtsextremen Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), muss sich mit drei Stimmen begnügen.
Die überwältigende Mehrheit wählt erwartungsgemäß Joachim Gauck zum elften deutschen Bundespräsidenten. Auf den gemeinsamen Kandidaten von Konservativen (CDU/CSU), Sozialdemokraten (SPD), Grünen und Freien Demokraten (FDP) entfallen 991 Stimmen. Hätten alle von diesen Parteien gestellten Wahlleute für Gauck votiert, wäre das Ergebnis mit rund 1100 Stimmen noch wesentlich deutlicher ausgefallen. Doch damit rechneten weder die ihn unterstützenden Parteien noch das neue Staatsoberhaupt selbst. Manche in den Reihen der SPD und der Grünen stören sich an Gaucks Ansichten zur Sozial-, Finanz- und Friedenspolitik. Auf diesen Politikfeldern steht der 72-Jährige dem Regierungslager erkennbar näher als der Opposition. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die 108 Enthaltungen leicht erklären.
"Was für ein schöner Sonntag"
Gauck selbst bezeichnet sich als "linken, liberalen Konservativen". Diese Selbsteinschätzung stammt aus der Zeit seiner ersten Kandidatur für das höchste Staatsamt 2010. Damals unterlag er Christian Wulff, der von der CDU/CSU und FDP nominiert worden war, im dritten und letzten Wahlgang. Dass er im zweiten Anlauf der Kandidat aller im Bundestag vertretenen Parteien mit Ausnahme der Linken ist, macht seine Wahl außergewöhnlich. Selten war der Ausgang einer Bundespräsidentenwahl so klar vorhersehbar. Mit Spannung wird deshalb die erste kurze Rede Gaucks erwartet, die er nach seiner Wahl hält. "Was für ein schöner Sonntag", beginnt der neue Bundespräsident und hat die zustimmenden Lacher auf seiner Seite.
Das Wetter könnte an diesem Frühlingstag in Berlin schöner nicht sein. Durch die gläserne Kuppel des Reichstagsgebäudes scheint unentwegt die Sonne. Für Gauck ist dieser 18. März 2012, abgesehen von seiner Wahl, aber auch wegen der aufgeladenen Symbolik des Datums ein "schöner Tag". Auf den Tag genau 22 Jahre zuvor habe er erstmals an freien Wahlen teilnehmen dürfen, erinnert Gauck an die erste freie Wahl in der DDR 1990. Damals habe er sich vorgenommen, niemals eine Wahl zu versäumen. Mit 93 Prozent war die Wahl-Beteiligung so hoch wie seit Vollendung der Deutschen Einheit im selben Jahr nie wieder.
"Bürgerpräsident" Gauck
Heute sind Politiker schon froh und der neue Bundespräsident wäre es wohl auch, wenn zwei Drittel der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben. Er wolle unbedingt daran mitwirken, dass sich Regierende und Bevölkerung wieder einander annäherten, betont Gauck dann auch angesichts von Politik- und Politikerverdrossenheit. Als "Bürgerpräsident", wie er in seinem Amt wahrgenommen werden möchte, will Gauck für mehr demokratische Teilhabe werben. Darin sah er schon in der Vergangenheit seine Aufgabe, seit im Jahre 2000 seine Amtszeit als Bundesbeauftragter der Stasi-Unterlagen-Behörde endete.
Gauck will sich also treu bleiben. Ihm sei bewusst, nicht alle Erwartungen erfüllen zu können. Er werde sich auf neue Themen, Probleme und Personen einstellen müssen, ist sich der neue Bundespräsident der Bürde und Verantwortung seines Amtes bewusst. An diesen Worten werden ihn vor allem jene messen, die Gauck angesichts seines Herzensthemas Freiheit inhaltliche Eindimensionalität vorhalten. Prominenteste Kritikerin war lange Zeit Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Gauck weder bei der Wahl 2010 noch dieses Mal wollte. Erst auf Druck ihres Koalitionspartners FDP lenkte die Regierungschefin ein.
Nachdem mit Christian Wulff und dessen Vorgänger Horst Köhler zwei von Merkel auserkorene Bundespräsidenten zurückgetreten sind, kann man ihr nicht gerade ein glückliches Händchen bescheinigen. Schon deshalb wird sie hoffen, dass die Worte Joachim Gaucks auch für sie gelten: "Was für ein schöner Sonntag."