Joseph - eine verlorene Kindheit in Ruanda
30. Oktober 2003Joseph sägt den letzten Querbalken für den Türrahmen zurecht, an dem er gerade arbeitet. Ein letzter prüfender Blick, noch einmal nachmessen. Der Balken passt. Jetzt sind Ausdauer und Fingerspitzengefühl gefragt. Der Balken ist noch roh, Joseph muss ihn glattschmirgeln. Per Hand, aber das macht ihm nichts aus.
Die Arbeit bedeutet Hoffnung für Joseph: "Es macht mir großen Spaß, mit Holz zu arbeiten. Und wenn ich das Schreinern hier richtig lerne und alles selber machen kann, dann brauche ich nie mehr zurück auf die Straße. Dann kann ich als Schreiner mein Geld verdienen."
Jugendliche ohne Zukunft
Ruanda ist mit seinen rund acht Millionen Einwohnern das am dichtesten bevölkerte Land in Afrika. Der kleine Staat im Zentrum des Kontinents hat so gut wie keine Bodenschätze und keine Industrie. Zudem hat der Völkermord von 1994, bei dem in nur 100 Tagen über 800.000 Menschen ihr Leben verloren, die schwache Wirtschaft des Landes um Jahrzehnte zurückgeworfen. Die Bevölkerung ist gespalten und verarmt.
Schlechte Voraussetzungen für Jugendliche, die mehr als die Hälfte der ruandischen Bevölkerung ausmachen. Nur rund jeder zehnte besucht eine weiterführende Schule. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Außer der eigenen Familie gibt es kein soziales Netz, das sie auf Dauer auffängt. So landen viele Jugendliche früher oder später auf der Straße. Der 17-jährige Joseph ist eins der über 3000 Straßenkindern in Ruandas Hauptstadt Kigali.
Der Weg auf die Straße
Im Genozid vor neun Jahren und dem anschließenden Bürgerkrieg hat Joseph seine Familie und sein Elternhaus verloren. "In meiner Familie gibt es nur noch meine Mutter. Wir sind sehr arm, es ist extrem schwierig für uns beide. Deshalb bin ich auf die Straße gegangen."
Joseph kommt aus Gitarama, einer Kleinstadt südwestlich der Hauptstadt Kigali. Aber dahin gab es nach der Flucht kein zurück. Joseph und seine Mutter hatten Angst, auf die Mörder zu treffen, denen sie 1994 so knapp entkommen waren. "Meine Familie ist in Gitarama umgekommen. Wir sind dann am Ende unserer Flucht nach Kigali gegangen, weil wir dachten, dass wir hier besser leben können." Ein Irrtum. Es gab keine Arbeit, es gab keine vernünftige Unterkunft, es gab keine Hilfe.
Begleitet von Hunger und Drogen
"Ich habe mich dann auf dem Marktplatz durchgeschlagen. Ich habe Leuten ihre Sachen getragen. Dafür habe ich ein bisschen Geld bekommen. Wenn ich nichts verdient habe, dann habe ich nach Resten gesucht und in einer Ecke geschlafen. Und wenn ich Geld hatte, bin ich zu meiner Mutter gegangen."
Joseph war noch keine acht Jahre alt, als er in den Strudel des Völkermords geriet. Die nächsten zwei Jahre war er ständig auf der Flucht. Seine ersten fünf Jahre in Kigali hat er komplett auf der Straße verbracht. Joseph zuckt mit den Schultern. "So geht es doch vielen Kinder in Ruanda", sagt er. "Das Leben auf der Straße ist hart. Ich habe Drogen genommen, um einzuschlafen. Die anderen auch. Wenn wir keine Drogen hatten, dann haben wir uns gestritten und gekämpft."
Hoffnung auf Zukunft
Joseph hat die Straße und ihre Drogen hinter sich gelassen. Für den Moment jedenfalls. Denn seit zwei Jahren lebt der schlacksige Teenager im Straßenkinderzentrum des Deutschen Roten Kreuzes in Kigali. Sozialarbeiter haben ihn hierher gebracht. Im Zentrum kriegt er drei warme Mahlzeiten am Tag. Hier lernt er lesen und schreiben, hier spielt er Fußball. Hier kümmert er sich darum, dass die Ziegen und Hühner Futter haben.
"Für mich ist das Wichtigste, dass ich einen richtigen Beruf lernen kann. Außerdem habe ich hier auch wieder gelernt, mit anderen Menschen zusammenzuleben, ohne mich sofort zu streiten. Ich will nicht mehr auf die Straße zurück." In ein paar Monaten wird Joseph volljährig. Dann muss er auf dem völlig überschwemmten Arbeitsmarkt nach einer neuen Chance abseits der Straße suchen.