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Politik

Mexikos überfordertes Schutzprogramm

1. Februar 2022

Vier Journalistenmorde in einem Monat - und zumindest drei der Opfer hatten den Staat zuvor dringend um Schutz gebeten. Hat Mexikos Schutzprogramm für Journalisten und Menschenrechtsverteidiger versagt?

Mexiko Pressefreiheit ermordete Journalisten
Fotos ermordeter Journalisten bei einem Protest vom 25. JanuarBild: Daniel Cardenas/AA/picture alliance

Mexiko blickt schockiert auf den bereits vierten gewaltsamen Tod eines Journalisten in diesem Jahr: Roberto Toledo wurde am Montag in der Stadt Zitácuaro von drei Personen angegriffen und erschossen. Der Mitarbeiter des lokalen Nachrichtenportals "Monitor Michoacán" hatte seinem Chef Armando Linares zufolge schon seit Monaten Drohungen erhalten und sich deshalb in einem staatlichen Schutzprogramm befunden. Toledo sei wegen Enthüllungen von "Monitor Michoacán" über Korruption in der Politik ermordet worden.

Bereits 2021 war Mexiko zusammen mit Indien das Land, in dem die meisten Journalisten ermordet wurden, so das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ).  "Reporter ohne Grenzen" bezeichnet Mexiko als eines der gefährlichsten Länder weltweit für Medienschaffende.  Es handelt sich um ein strukturelles Problem, das sich im Laufe der Jahre mit der Straflosigkeit und dem Vormarsch des Drogenhandels verschärft hat. 

Nur eine Woche vor Toledos Tod wurde in der nordmexikanischen Grenzstadt Tijuana die Journalistin Lourdes Maldonado umgebracht, wiederum eine Woche davor der Fotograf Margarito Martínez vor seinem Haus erschossen. Beide hatten wie Toledo zuvor Drohungen erhalten und die Polizei eingeschaltet. Und am 10. Januar hatten Unbekannte José Luis Gamboa erstochen, den Leiter der Plattform "Inforegio" im Bundesstaat Veracruz. 

Fotojournalist Esquivel wurde vor seinem Auto in Tijuana erschossenBild: JORGE DUENES/REUTERS

Ein überholtes Schutzprogramm 

In Mexiko gibt es seit 2012 einen staatlichen Schutzmechanismus für Journalisten und Menschenrechtsverteidiger. Er entstand auf Druck der Zivilgesellschaft und wurde seinerzeit als Durchbruch gefeiert. Kolumbien war das erste Land in Lateinamerika, das einen ähnlichen Mechanismus eingeführt hatte, gefolgt von Mexiko, Guatemala, Honduras, Brasilien und Peru. 

Doch obwohl dieses Schutzprogramm Leben gerettet hat, ist es heute überlastet und unterfinanziert, darin sind sich die Menschrechtsorganisationen einig, die es 2012 angestoßen haben. Seit seiner Einführung wurden 14 Journalisten ermordet, die eigentlich durch dieses Programm hätten geschützt werden sollen. 

Schutzprogramm mit vielen Mängeln 

"Der Schutzmechanismus hat viele Mängel und muss gestärkt werden", sagte Balbina Flores, Vertreterin von Reporter ohne Grenzen (ROG) in Mexiko, gegenüber der DW. "Wenn Sie eine Bedrohung erhalten und sich an das Schutzprogramm wenden, muss dieses innerhalb von zwölf Stunden eine Sofortmaßnahme einleiten. In der Regel handelt es sich darum, einen Panikknopf bereitzustellen oder örtliche Polizeistreifen zu aktivieren. Wenn jemand jedoch in einer weit entfernten Gemeinde und in einem besonders gewalttätigen Umfeld lebt, kann auch beschlossen werden, diese Person von dort wegzubringen oder ihr einen Leibwächter zu stellen." So die Theorie. "Im Allgemeinen dauert die Einrichtung einfacher Maßnahmen jedoch 15 bis 20 Tage, im Falle der Gewährung einer Zuflucht oder eines Leibwächters sogar bis zu einem halben Jahr", so die Vertreterin von Reporter ohne Grenzen.   

Hohe Nachfrage, strukturelle Defizite, wenig Personal

Die Schwerfälligkeit ist auf ein Missverhältnis zwischen Nachfrage und Personal zurückzuführen. Derzeit genießen etwa 1500 Personen Schutz, darunter 500 Journalisten. "Die Anfragen sind von 2019 bis heute um 60 Prozent gestiegen", sagt Flores. "Aber der Mechanismus verfügt noch immer über das gleiche Personal und fast die gleichen Ressourcen wie vor 2019." 

Itzia Miravete, Präventionskoordinatorin der Menschenrechtsorganisation Artículo 19, kritisiert, dass der Mechanismus rein reaktiv aufgestellt ist und es nie geschafft hat, sich mit anderen Bundesbehörden zu koordinieren oder seine Präventionseinheit effizient arbeiten zu lassen. "Aber es ist nicht nur der Mechanismus, der versagt hat, sondern der ganze Staat, denn jahrelang war dieser Mechanismus das einzige öffentliche Schutzprogramm." 

Die Kritik der Menschenrechtsorganisationen scheint auf ein Echo zu stoßen. Vor einigen Monaten schlug das Innenministerium eine Reform vor, die darauf abzielt, die Verantwortung für den Schutz von Journalisten und Aktivisten zu dezentralisieren und an die mexikanischen Bundesstaaten zu delegieren. Die Organisationen begrüßen die Initiative, aber Balbina Flores von Reporter ohne Grenzen warnt, dass "es ohne wirtschaftliche Unterstützung und professionelles Personal sehr schwierig sein wird, Ergebnisse zu erzielen". 

Fehlender politischer Wille 

Itzia Miravete betont ihrerseits, dass viele der nötigen Änderungen, wie etwa eine größere Transparenz, die Beteiligung von Opferorganisationen, die Wiedergutmachung von Schäden oder die Durchsetzung von Sanktionen gegen die Behörden, wenn diese versagen sollten, vor allem einen großen politischen Willen erfordern. "Alle Staatsanwaltschaften des Landes verfügen über das Standardprotokoll für die Verfolgung von Straftaten gegen die Meinungsfreiheit und sind verpflichtet, es anzuwenden", fügt sie hinzu. 

Ein Problem ist jedoch das historisch bedingte Misstrauen zwischen Journalisten und Behörden, da Drohungen gegen Journalisten nicht selten von der Polizei oder lokalen Politikern selbst ausgehen. 

Unternimmt seine Regierung genug zum Schutz der Journalisten im Land? Mexikos Präsident Andres Manuel Lopez ObradorBild: Luis Barron/Eyepix/NurPhoto/picture alliance

Die Journalistin Lourdes Maldonado hatte sich zum Beispiel direkt bei Präsident Andrés Manuel López Obrador darüber beklagt, dass die Drohungen gegen sie vom Gouverneur des Bundesstaates Baja California, Obradors Parteikollegen Jaime Bonilla, ausgingen, gegen den sie einen Arbeitsrechtsstreit geführt hatte. 

Forderung nach einer umfassenden Sicherheitsstrategie 

Selbst im Falle von Nachbesserungen kann das staatliche Schutzprogramm allein wohl kaum die erhoffte Wunderwaffe sein inmitten der Gewaltspirale, die durch 96 Prozent Straflosigkeit angeheizt wird. "Wenn der mexikanische Staat die Bedingungen für die Arbeit der Presse wirklich verbessern will, ist eine deutlich umfassendere Reform erforderlich", sagt Miravete von Artículo 19. "Wir könnten etwa Gesetze reformieren, die Klagen auf Schmerzensgeld ermöglichen, die darauf abzielen, Journalisten zum Schweigen zu bringen", schlägt sie vor. 

Mexiko ist jedoch noch weit von einer umfassenden Sicherheitsstrategie entfernt. Die Reformen zur Professionalisierung der Polizei und zur Gewährleistung einer größeren politischen Unabhängigkeit der Justiz sind ins Stocken geraten. Nach Angaben des World Justice Project, das die Entwicklung der Rechtsstaatlichkeit in der Welt dokumentiert, fiel Mexiko im Jahr 2021 um neun Plätze auf Rang 113 von 139 bewerteten Ländern zurück.