Juden in Deutschland - Friedrich Merz den Tränen nah
16. September 2025
Plötzlich stockt Friedrich Merz in seiner Rede, fünf, sechs, sieben Sekunden lang. Er ringt um Fassung, bemüht sich weiterzusprechen, verstummt erneut. Und ja, Merz kämpft mit den Tränen.
Am Montagabend ist der Bundeskanzler in München zu Gast. Dort feiert die Jüdische Gemeinde die Wiedereröffnung der ursprünglich 1931 eröffneten und 1938 von den Nazis stark beschädigten Synagoge in der Reichenbachstraße. Es ist eine dieser kleinen großen Geschichten des im Nationalsozialismus fast vernichteten Judentums in Deutschland, das in Vielfalt zurückgekommen ist.
Erstmals redet Merz in einer Synagoge
Merz ist nach München gereist, um zur Eröffnung zu sprechen. Es ist seine erste Rede als Politiker in einer Synagoge. Wenige Wochen nach dem Terror-Überfall und Massenmord der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 war er mit vielen anderen Politikern in Berlin in der Synagoge an der Brunnenstraße zu Gast. Schon einige Tage nach dem terroristischen Überfall besuchte er das Jüdische Gymnasium in Berlin-Mitte, fünf Monate später erneut. Danach zeigte sich Merz spürbar bestürzt über die Ängste der Schülerinnen und Schüler angesichts judenfeindlicher Übergriffe.
Nun München: Merz (69) beginnt seine Rede mit den üblichen Begrüßungen, darunter neben vielen älteren Mitgliedern der Münchner jüdischen Gemeinde auch die große alte Dame der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, Charlotte Knobloch (92), und der Vorsitzende des Zentralrat der Juden in Deutschland, Josef Schuster (71).
"Das Menschheitsverbrechen der Shoa"
Bald kommt Merz zu sprechen auf das "Menschheitsverbrechen der Shoa", den Holocaust, den Versuch der "systematischen industrialisierten Auslöschung des jüdischen Volkes". Er zitiert eine Aussage von Hannah Arendt (1906-1975), der deutsch-jüdischen Denkerin: spricht von einer so radikal bösen Tat, die "nicht hätte passieren dürfen" unter uns Menschen. Bei den letzten dieser Worte bricht hörbar seine Stimme. Er stockt, schluckt, ein Schluchzen liegt in seiner Stimme.
Es ist die erste von zwei Reden des deutschen Bundeskanzlers zur Lage der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland binnen 48 Stunden. Am Mittwochabend lädt der Zentralrat der Juden in Deutschland anlässlich seines 75-jährigen Bestehens zum Empfang in Berlin vor dem jüdischen Neujahrsfest. Festredner: Bundeskanzler Merz. Diese zeitliche Nähe von zwei Reden des Regierungschefs zum gleichen Themenbereich ist sehr ungewöhnlich. Vielleicht scheint ihm das notwendig.
Denn der 75. Jahrestag ist ein Jubiläum in Zeiten der Sorge. "Sich als Jude offen erkennen zu geben, mit dem Tragen einer Kippa oder eines Davidsterns, ist in nicht wenigen Vierteln in Berlin problematisch geworden", sagte Josef Schuster im Vorfeld der Feier der DW. Es gebe Probleme in Großstädten wie Frankfurt und Berlin.
Zum Jubiläum des Zentralrats versammelt sich die Prominenz im Jüdischen Museum der deutschen Hauptstadt. Dessen 1999 fertig gestellter zickzackförmiger Neubau des Star-Architekten Daniel Libeskind steht für die Brüche des jüdischen Lebens in Deutschland. Das vor 24 Jahren eröffnete Museum zeigt die Traditionen des deutschen Judentums zwischen Alltag und der Vernichtung in der Shoa, Bedrohung und Kontinuität.
Auch an diesem Haus, einem der meistbesuchten Museen in Deutschland, ist die seit Jahren verschärfte Sicherheitslage nicht vorbeibegangen. Alle Besucherinnen und Besucher passieren eine Sicherheitsschleuse, die jenen an einem Flughafen gleicht. Das ist Alltag bei jüdischem Leben in Deutschland, auch bei vielen Synagogen.
Der Zentralrat wurde im Juli 1950 gegründet. Das war Jahre nach der Wiedergründung einer Reihe von jüdischen Gemeinden, so auch in München. Juden, die den Holocaust überlebt hatten, wagten gleich nach Kriegsende 1945 diesen Schritt. Aber über Jahre war offen, ob sich jüdisches Leben in Deutschland wieder verankern werde, im Land der Täter. Auf jüdischer Seite war umstritten, ob es sich wieder verankern sollte.
"Heute lebhaftes jüdisches Leben"
Heute, so Schuster, gebe es "lebhaftes jüdisches Leben im ganzen Bundesgebiet, wirklich von Flensburg bis München, von Aachen bis Cottbus". Schätzungen gehen von bis zu 250.000 Jüdinnen und Juden in Deutschland aus, knapp die Hälfte davon gehört einer der 105 jüdischen Gemeinden an.
In den vergangenen Jahren brachte der Zentralrat die jüdische Gemeinschaft in Deutschland, die mehrere Synagogen (wieder)eröffnete, strukturell weiter voran. Seit gut drei Jahren gibt es einen ersten Militärbundesrabbiner und jüdische Seelsorge bei der Bundeswehr. Im Sommer 2026 steht in Frankfurt am Main die Eröffnung einer "Jüdischen Akademie" an.
Man könnte meinen, "die Welt ist doch in Ordnung", sagt Schuster der DW. "Das jüdische Leben blüht. Das stimmt auf der einen Seite, es stimmt auf der anderen Seite nicht. Denn gerade seit dem 7. Oktober 2023, dem Überfall der Hamas auf Israel, erleben wir leider auch zunehmenden Antisemitismus und Judenfeindlichkeit in der Bundesrepublik."
Am Montagabend in München thematisiert Merz, jüdisches Leben in Deutschland erfolge unter widrigsten Bedingungen. "Die Gottesdienste, die hier ab heute gefeiert werden, die Kulturveranstaltungen: Sie werden ausnahmslos unter Polizeischutz stattfinden. Polizei steht deutschlandweit vor jüdischen Kindergärten, Schulen, vor Restaurants und Cafes. Antisemitismus war nie aus der Bundesrepublik verschwunden", sagt er.
Er betont, wie sehr ihn "das beschämt: als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland; als Deutscher; als Kind der Nachkriegsgeneration".
"Die neue Welle des Antisemitismus"
Merz spricht von der "neuen Welle des Antisemitismus: im alten und in neuem Gewand; unverhohlen und dürftig versteckt; in Worten und in Taten; in den sozialen Medien, an den Universitäten, im öffentlichen Raum". Er sucht Gründe: "Wir haben in Politik und Gesellschaft zu lange die Augen davor verschlossen, dass von den Menschen, die in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland gekommen sind, ein Teil in Herkunftsländern sozialisiert wurde, in denen Antisemitismus geradezu Staatsdoktrin ist, Israelhass schon Kindern vermittelt wird."
In den vergangenen Wochen wurde Merz kritisiert, nachdem er auf wachsende Distanz zur Regierung von Israels Premier Benjamin Netanjahu gegangen war und entschied, Waffenexporte nach Israel teilweise zu stoppen. Die Kritik kam aus Israel, sie wurde aber auch in Deutschland laut: in seiner eigenen Partei, bei einzelnen Vertretern jüdischer Gemeinden und in den Medien.
Es bleibt eine Spannung, in der auch der Zentralrat der Juden steht. "Ganz genau", antwortet Schuster im DW-Interview auf die Frage, ob man mehr unterscheiden müsse zwischen der Regierung Netanjahu, dem Staat Israel und den Juden in Deutschland. Es sei "ganz klar falsch", das Handeln einer Regierung in Israel mit Juden in der ganzen Welt gleichzusetzen.