1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Judenhass in Dagestan: Wie antisemitisch ist Russland?

30. Oktober 2023

Nach dem Sturm des Flughafens von Machatschkala in der russischen Teilrepublik Dagestan, nachdem ein Flugzeug aus Israel gelandet war, fragen sich viele: Was ist gerade los in Russland?

Eine große Menschenmenge vor dem Flughafen Machatschkala in Dagestan
Bei der Ankunft einer Maschine aus Tel Aviv wurde der Flughafen Machatschkala in der russischen Teilrepublik Dagestan von einem Mob gestürmtBild: Ramazan Rashidov/TASS/dpa/picture alliance

"Versuchen Sie bloß keine Türen zu öffnen, draußen wütet der Mob!" Mit diesen Worten warnt der Kapitän eines russischen Flugzeugs seine Passagiere. Sein Flugzeug hat soeben am Flughafen von Machatschkala geparkt, neben einer anderen Maschine, die vor wenigen Minuten aus Tel Aviv kam. Was die Passagiere durch die Fenster sehen, macht ihnen Angst: Dutzende aufgebrachte Männer laufen schreiend auf dem Rollfeld zwischen den Flugzeugen. Scheinbar völlig unkoordiniert und sichtlich aggressiv. Einer der Männer schafft es, auf die Tragfläche der Maschine aus Tel Aviv zu klettern, andere versuchen durch verschlossene Türen ins Flugzeug einzudringen. Ein Foto macht die Runde, auf dem ein Mann sogar in die Düse des Passagierjets hereinschaut. Die wütende Menge sei, wie sie sagen, auf der Suche nach Juden oder Menschen mit dem israelischen Pass.

Wütende Menschen drangen auf das Rollfeld vor und riefen antisemitische ParolenBild: AP/picture alliance

Zuvor stürmen ein paar Tausend Männer den Flughafen von Machatschkala. Auf ihrem Weg zum Rollfeld zerstören sie Fenster, reißen Türen heraus und rufen "Allahu Akbar!". Fast im Minutentakt werden Videos davon in sozialen Medien verbreitet. Ein solcher Gewaltausbruch scheint die Behörden in Dagestan völlig überrascht zu haben. Nur zögerlich reagiert die Polizei, erst einige Stunden später wird die wütende Menge überwältigt. Am Ende: 60 Festnahmen, 20 Verletzte, zwei davon schwer. Das Staatliche Untersuchungskomitee von Dagestan leitet Untersuchungen ein und die Welt schaut schockiert auf die russische Teilrepublik als eklatantes Beispiel eines zur Schau getragenen Antisemitismus.

Aufruf zu den Protesten in den sozialen Medien

Oleg Petrowitsch Orlow von der Menschenrechtsorganisation Memorial räumt im Gespräch mit der DW ein, dass antisemitische Stimmungen im Kaukasus bereits seit fast einem Monat brodelten, nachdem der aktuelle Israel-Hamas-Konflikt ausgebrochen war. Dennoch habe niemand dieses Ausmaß an Hass erwartet, auch nicht die Machthaber in der Hauptstadt Machatschkala. Zwar sei Dagestan bekannt als eine Region, "in der jede Straßenaktion deutlich sichtbarer wird als sonst im Kaukasus". Orlow betont dabei aber die "provozierende Rolle" sämtlicher Telegram-Kanäle, die zum Sturm des Flughafens aufgerufen hätten, allen voran "Der Morgen Dagestan".

Zwar hätten die Macher von "Der Morgen Dagestan" beteuert, nicht antisemitisch zu sein, dennoch sei ihr Kanal voll mit antisemitischen Inhalten und anderen provozierenden Artikeln. Dass dieser Kanal überhaupt existieren konnte, sei verwunderlich, wenn man wisse, wie genau der FSB solche Medien kontrolliere und wie schnell, wenn nötig, blocke, so Orlow, und er sagt weiter: "Ich glaube natürlich nicht, dass die Geheimdienste bewusst Proteste solchen Ausmaßes gewollt hätten. Möglicherweise ist die Situation einfach außer Kontrolle geraten."

Zeichen der Schwäche des russischen Staates

Und genau das würde auf die Schwäche des russischen Staates hinweisen, resümiert der Memorial-Experte. Zwar werde Russland immer totalitärer, gleichzeitig aber wirke der Staat schwach. Die Staatsmacht sei auf dem falschen Fuß erwischt worden, ähnlich wie im Juni dieses Jahres schon, als Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin seinen Marsch auf Moskau startete.

Kremlchef Putin nutzte die Ausschreitungen in Dagestan unterdessen für Vorwürfe gegen den Westen. Die Ereignisse in Machatschkala seien nicht zuletzt von ukrainischem Gebiet aus inspiriert worden, "durch die Hände westlicher Geheimdienste", sagte er bei einer Sitzung zur Sicherheitslage Russlands. Belege für die Behauptung einer angeblich ausländischen Steuerung des Vorfalls legte er nicht vor. Die USA wiesen die Vorwürfe unterdessen zurück. 

Gefühl der Hilflosigkeit 

Dass der Protest gegen die Menschen jüdischen Glaubens oder israelische Staatsbürger mit solch einer offenen Aggression überhaupt ausbrechen konnte, ist für Saida Sirashudinowa vom dagestanischen Forschungszentrum "Kaukasus. Welt. Entwicklung" auf die allgemeine Situation in der autonomen Republik Dagestan zurückzuführen. Gegenüber der Deutschen Welle erklärt sie das mit dem "akkumulierten Gefühl der Hilflosigkeit", das aus persönlichen und sozialen Problemen sowie einer allgemeinen Perspektivlosigkeit resultiere. "Natürlich hat die Lage der Palästinenser, die nicht besser wird, die Menschen beeinflusst." Dennoch macht auch sie vor allem soziale Medien als Auslöser für die Gewalt verantwortlich, die an die muslimischen Bewohner von Dagestan appellierten und zu Protesten aufriefen. Ein Teil der Bevölkerung sei unter diesen Einfluss geraten: "Diese Aggression ist gefährlich, brandgefährlich. Sie wird gelenkt von radikal entschlossenen Muslimen, die selbst allerdings schon lange nicht mehr in Dagestan wohnen."

Einige Randalierer trugen Palästinenserfahnen oder riefen "Allahu Akbar!"Bild: Ramazan Rashidov/TASS/dpa/picture alliance

In dieser Hinsicht sei die offizielle Position der religiösen Führung der Republik wichtig, die sich klar gegen die Angriffe positioniert hätte. Dennoch werde die Zahl derjenigen, die zu radikaler Gewalt bereit seien, immer größer und dieses Problem werde nicht gelöst, beklagt Sirashudinowa: "Dieser Ausbruch negativer Energie war möglich, weil es kein Ventil für den Ärger der Menschen gab."

Ihr sei es wichtig zu betonen, dass "nicht ganz Dagestan dazu bereit ist, herumzulaufen und Juden aus den Flugzeugen zu zerren". Auf die Frage, ob der russische Kaukasus insgesamt antisemitisch sei, erwidert die Soziologin, dass der russische Kaukasus sehr unterschiedlich sei. "Wir sehen auch Reaktionen der dagestanischen Öffentlichkeit, die nicht antisemitisch sind." Mehr noch, ein Teil der Urbevölkerung Dagestans seien Juden, die seit Jahrhunderten dort lebten.

"Die Zahl derjenigen, die zu radikaler Gewalt bereit sind, wird immer größer", sagt die Soziologin SirashudinowaBild: AP/picture alliance

Dabei kritisiert Sirashudinowa, dass die antisemitische Stimmung in den letzten fünf bis sieben Jahren von außen bewusst angeheizt worden sei. Juden hätten immer häufiger als Schuldige herhalten müssen. Dies würden vor allem ungebildete Menschen glauben: "Wir haben ein Problem mit der Bildung in Dagestan. Und auch dieses Problem zeigt sich jetzt in diesem Konflikt."

Keine Ausweitung der Ausschreitungen zu befürchten

Dass die Aggression gegenüber den Juden in Dagestan auch auf andere Regionen Russlands überschwappt, sei allerdings nicht zu befürchten, beruhigt Dennis Wolkow vom unabhängigen russischen Meinungsforschungsinstitut Lewada-Center im DW-Interview. "Das Protestpotenzial ist zurzeit nicht groß, auch wenn hier und da immer wieder kleinere Proteste zu sehen sind." Wolkow weist auf die aktuellen Umfragen hin, wonach zwei Drittel der russischen Bevölkerung sich für den Konflikt im Nahen Osten überhaupt nicht interessieren würden. "Die Menschen in Russland sind vielmehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt."

Dieser Artikel wurde am 31.Oktober 2023 aktualisiert.