Jugendliche Extremisten: Gefahr wächst in Deutschland
1. Dezember 2025
Ihr Anschlagsziel war ein Weihnachtsmarkt in Leverkusen (Nordrhein-Westfalen). Mit einem Lastwagen wollten die 15- und 17-Jährigen, die sich mit der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) identifizierten, so viele Menschen wie möglich töten. Zwei Tage vor dem geplanten Attentat wurden die Jugendlichen verhaftet, weil die Polizei auf ihre Chats im Internet aufmerksam geworden war.
Die aus Afghanistan und der autonomen russischen Republik Tschetschenien stammenden Minderjährigen wurden 2024 zu vier Jahren Haft verurteilt. Fälle wie dieser bereiten den deutschen Sicherheitsbehörden zunehmend Kopfzerbrechen. Das Bundeskriminalamt (BKA) registriert im Bereich von Gewaltkriminalität seit Jahren einen steilen Anstieg. Bei tatverdächtigen Jugendlichen (bis 17 Jahre) haben sich die Zahlen seit 2019 um knapp ein Drittel erhöht, bei Kindern (bis 13 Jahre) sogar um zwei Drittel.
In der aktuellen Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) benennt das BKA mögliche Gründe für diese Entwicklung: "Es gibt Hinweise darauf, dass psychische Belastungen bei Kindern und Jugendlichen seit einigen Jahren vermehrt auftreten. Psychische Belastungen sind zwar keine direkte Ursache für kriminelles Verhalten, aber im Zusammenwirken mit anderen ungünstigen Faktoren können sie die Wahrscheinlichkeit der Begehung von (Gewalt-)Straftaten erhöhen."
Risiko-Faktoren: Krieg, Klimawandel, Corona-Pandemie
Als Risiken gelten vor allem Gewalt in der eigenen Familie, fehlende Zuneigung der Eltern, Armut und Zukunftssorgen angesichts multipler gesellschaftlicher Krisen wie Krieg, Klimawandel und Corona-Pandemie. Für besonders gefährdet hält das BKA dabei Minderjährige, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind. Einsam und ohne Perspektive hofften sie, im Internet Antworten auf ihre Fragen nach dem Sinn des Lebens zu finden.
Und so landen sie oft auf den Seiten religiöser oder politischer Extremisten. Dabei wächst die Gefahr, selbst extremistisch zu werden. Um solche Menschen – Kinder, Teenager, junge Erwachsene – kümmert sich seit über 20 Jahren das in Berlin ansässige "Violence Prevention Network" (VPN). Die Nichtregierungsorganisation ist zugleich wichtiger Ansprechpartner für Sicherheitsbehörden, wenn es um Deradikalisierung geht.
Der Nahost-Konflikt als Brandbeschleuniger
Geschäftsführer Thomas Mücke warnt vor einer zunehmenden Sprachlosigkeit gegenüber Kindern und Jugendlichen. Er weiß aus Nahost-Workshops an Schulen, wie schnell es dabei zu emotional aufgeladenen Situationen kommen kann. Deshalb hält er Gespräche mit und zwischen jungen Menschen in einem geschützten Rahmen für unverzichtbar, damit sie nicht auf die schiefe Bahn geraten.
"Da können sie sich auch mal das sagen, was Erwachsenen schwerfällt", betont Mücke. So könne man mit ihnen diskutieren und sie für andere Sichtweisen öffnen. "Wenn wir diese Fähigkeit zur Kommunikation verlieren, dann haben die Extremisten gewonnen."
Propaganda-Konsum auf TikTok und anderen Plattformen
Welche Folgen derlei Versäumnisse haben können, lässt sich auch im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2024 nachlesen: "In den letzten Jahren konnte beobachtet werden, dass rechtsextremistischen Gewaltstraftaten oft eine Radikalisierung im Internet vorausgeht." Dabei spiele nicht nur der Konsum von Propaganda auf Plattformen wie Instagram und TikTok eine Rolle, sondern vor allem eine weitverzweigte, oft internationale Vernetzung mit Gleichgesinnten in Online-Kanälen wie Telegram oder Discord.
"Dabei stellt das Internet mit seinen niederschwelligen Einstiegsmöglichkeiten und der allgegenwärtigen Verfügbarkeit für junge Akteure einen leicht zugänglichen virtuellen Raum zur Vernetzung dar, um sich menschenfeindlich und gewaltbereit zu äußern", resümiert der Verfassungsschutz.
Rechtsextreme Feindbilder: "Antifa" und queere Menschen
Beispielhaft erwähnt wird die 2024 über ihren Instagram-Account bekannt gewordene Gruppierung "Jung & Stark" (JS). "Dieser von bestehenden regionalen und überregionalen rechtsextremistischen Szenen losgelöste, innerhalb kurzer Zeit entstandene rechtsextremistische Personenzusammenschluss markiert für viele junge, zum Teil minderjährige Personen den Einstieg in den Rechtsextremismus", heißt es in dem Bericht.
Für ihre Agitation bedienten sich JS-Mitglieder ideologischer Fragmente, die in der gezielten Auswahl von Feindbildern Ausdruck fänden. Dazu zählen unter anderem die linke "Antifa" und die LGBTIQ-Bewegung. Die Abkürzung steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender, intergeschlechtliche und queere Menschen.
Wie holt man Kinder und Jugendliche aus ihre Echokammern?
Radikalisierte Kinder und Jugendliche aus den engen Räumen ihrer virtuellen Echokammern zu holen, wird nach Beobachtungen des "Violence Prevention Network" immer schwieriger. Feride Aktas vom Fachbereich "Religiös begründeter Extremismus" sorgt sich mehr denn je um den politischen und gesellschaftlichen Diskurs.
"Wir sind an einem Punkt, wo wir so distanziert voneinander sind, dass wir erst wieder dialogfähig werden müssen." Dafür sei es nötig, junge Menschen wegen fragwürdiger Äußerungen nicht gleich in eine bestimmte Ecke zu stellen, sondern auf ihre Emotionen einzugehen, betont Aktas.
Wenn Familien und Schulen versagen
In Gesprächen mit radikalisierten Minderjährigen erlebe sie auch im Jahr 2025, dass die Folgen der Corona-Pandemie noch immer eine Rolle spielen. Dann höre sie oft, niemand sei für einen da gewesen – weder in der Familie noch in der Schule. Solche Mädchen und Jungen seien auch in einer Gruppe einsam. "Und dann finden sie Anschluss in Gruppen, die sie auf verschiedenen Wegen im Rechtsextremismus oder Islamismus auffangen können", sagt Aktas.
Ihr Kollege Thomas Mücke verweist auf das grundsätzliche Problem vieler Eltern, die Gefahr einer sich anbahnenden Radikalisierung ihrer Kinder nicht zu erkennen. Umso wichtiger sei es, sich im Zweifelsfall an Beratungsstellen zu wenden. "Wir schauen uns das sehr genau an und gehen mit Eltern sofort ins Gespräch."
"Hochrisiko-Personen" und IS-Rückkehrer aus Syrien
Das "Violence Prevention Network" hatte in den vergangenen zehn Jahren mit 431 "gefahrenrelevanten" Fällen zu tun. Von solchen Personen gehe eine Fremd- und Selbstgefährdung aus, erläutert Mücke. Darunter waren oder sind seinen Angaben zufolge 75 "Hochrisiko-Personen", von denen eine besonders hohe Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehe. Ähnliches gelte für 65 radikalisierte Jugendliche, die sich der Terrorgruppe "Islamischer Staat" (IS) angeschlossen hatten und aus Syrien zurückgekehrt sind.
Den Erfolg seiner Arbeit misst Mücke an der Rückfall-Quote unter den jungen Menschen, mit denen man gemeinsam einen Weg aus extremistischen Milieus sucht. Das Ergebnis ist sehr ermutigend: Von den 431 Jungen und Mädchen seien nur zwei rückfällig geworden.