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Jugendtrend: Die "Talahons" boxen sich durch TikTok

23. August 2024

Junge Migranten tanzen durch verwackelte TikTok-Videos, boxen dabei in die Luft und singen in schlechtem Deutsch sexistische Texte: Der neueste Jugendkulturtrend heißt "Talahon". Was steckt dahinter?

Screenshot aus der Videoplattform TikTok: Zwei junge Männer  mit dunklen Haaren, einer mit Seitenscheitel stehen vor einem Bahnhof
Bekannter Talahon auf TikTok: der Araber mit dem SeitenscheitelBild: @talasohn/TikTok

Die einen finden es gefährlich, die andern eher zum Lachen, was zur Zeit auf TikTok abgeht: Kurze Videos zeigen grimmig dreinblickende junge Männer, zumeist arabischer Herkunft. Mit ausladender Geste wird da zum stampfenden Beat gezuckt. Die Boxerpose soll bedrohlich wirken, Die Cappy darf nicht fehlen, erst recht nicht die Bauchtasche. "Underdogs inszenieren sich als coole Underdogs", sagt Susanne Schröter, Ethnologie-Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main gegenüber der DW, "das gab es schon früher."

Doch heute nutzen Jugendliche das TikTok-Video als Bühne zur Selbstinszenierung. Wie etwa Mahmoud, der auf TikTok als "Araber mit dem Seitenscheitel" auftritt. Im Westdeutschen Rundfunk (WDR) beschrieb der 19-Jährige, was wichtig ist bei der Tahalon-Performance: "Louis Vuitton, sich breit machen auf der Straße, Parfum." Außerdem gefälschte Balenciaga-Klamotten und natürlich die obligatorische Bauchtasche.

Outfit und Bewegungen müssen stimmen

"Komm mal her" - das ist die eigentliche Bedeutung des Wortes "Talahon", das vom arabischen Begriff "Ta'al La'hon" abstammt. Den Stein für die Talahons warf womöglich Hassan aus Hagen ins Wasser, ein kurdisch-syrischer Rapper Anfang 20, der seit zehn Jahren in Deutschland lebt und nebenbei im Imbiss seiner Familie jobbt. Er postete 2022 den Song "TA3AL LAHON". Daraus ging eine Textzeile viral: "Tala‘ hon, ich geb dir ein Stich, ich bin der Patron."

Auf TikTok setzen sich seither vor allem junge Einwanderer unter dem Hashtag "#talahon" in Szene, der Trend hat längst die Videoplattform erobert. Und in belebten Stadtvierteln, gerne rund um Bahnhöfe, gehören die Talahons längst zum Straßenbild. "Ein Talahon muss respektvoll sein", sagte Rapper Hassan dem WDR, was in deutlichem Kontrast zu seinem Lied über Kriminalität und Gewalt steht. Eine Zeile darin lautet: "Deine Jungs sehen, wie ich in dir Messer steche." Hassan nennt diese Sprache in schlechtem Deutsch eine "Kunstform", die vom Leben "auf der Straße" erzähle.

Was aber treibt die Talahons an? "Es geht um Selbstinszenierung", sagt der Schweizer Psychologe und Psychotherapeut Lothar Janssen, der viel mit Jugendlichen arbeitet, auch an Schulen. "Wenn einer das geschafft hat und andere liken das, dann bist du der King, dann hast Du Fame. Dann wird nachproduziert." Wer Fame, sprich: Aufmerksamkeit hat, kommt unter Gleichgesinnten in der Peergroup gut an. "Die Sozialen Medien wirken dann noch wie ein Brandbeschleuniger", so Janssen.

Talahon-Videos gehen oft viral Bild: Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

Sexismus und Rassismus in Talahon-Videos

Tatsächlich fluten viele Talahons mit ihren Kurzvideos den TikTok-Kanal. Die meisten Beiträge ähneln sich: Outfit und Pose müssen - wie bei TikTok üblich - schon nach Sekunden begeistern, damit User anbeißen und das Video mehrfach anschauen. 

Nicht jeder Talahon stößt auf Verständnis. Manche gelten als gewaltbereit und sexistisch. Die "Bild"-Zeitung etwa spricht von einem "widerlichen TikTok-Trend". Und der WDR konstatiert, dass einige Äußerungen der jungen Männer ein problematisches Frauenbild reproduzierten: "Eine (brauchst) du zum Kochen, eine zum putzen". Die rechtspopulistische Partei Alternative für Deutschland (AfD) hat die Talahons als Feindbild identifiziert und fordert die Ausweisung junger arabischstämmiger Männer.

Den Hauptgrund für den Erfolg der Talahons sieht Psychologe Janssen in einer wachsenden Verunsicherung bei Identität, Geschlechterrollen und Beziehungen. "Viele Menschen", sagt er, "lechzen nach Klarheit und Einfachheit." Talahon-Videos seien nichts anders als "verzweifelte Reparaturversuche in einer Welt, die immer orientierungsloser wird." Auch Populisten profitierten von diesem Phänomen, Janssen nennt das den "AfD-Reflex"

Der Schweizer Psychologe und Theologe Lothar Janssen beschäftigt sich mit JugendbewegungenBild: privat

Der Rap früher war viel drastischer

Gewalt und Sexismus sei schon bei früheren Musiktrends wie dem Metal-Rap, dem Gangster-Rap oder auch beim dschihadistischen Rap ein großes Thema gewesen, erinnert Ethnologin Susanne Schröter. Reihenweise seien Titel mit extrem gewaltaffinen Texten verboten worden oder auf dem Index gelandet. Gewalt sei zwar auch bei den Talahons ein Thema. "Aber früher war das sehr viel drastischer." Da habe man mit Rap Karriere machen und irgendwann auch Geld verdienen können. "Der Unterschied ist vielleicht der, dass die Talahons tatsächlich intellektuell und poetisch wirklich unterirdisch schlecht sind. Das kann man nicht mit dem Rap vergleichen." Ebenso wenig in ihrem sozialkritischen Gehalt.

Sieht in Talahon einen politisch relevanten Jugendtrend: Die Ethnologin Prof. Susanne Schröter von der Goethe-Universität FrankfurtBild: Privat

Doch selbst in der migrantischen Jugendszene kommen die jungen Talahons nicht gut an, wie die Frankfurter Ethnologin beobachtet hat: "Es gibt viele kleine Videos, Posts und auch Äußerungen von Migranten, die sagen: 'Was ist denn das für ein Quatsch, hoffentlich werden wir nicht mit diesen Hohlrollern in eine Ecke gestellt'!" In der Migrantenszene rangierten die Talahons "am alleruntersten Ende", glaubt Schröter. Auf TikTok kursieren mittlerweile unzählige Videos, die sich über sie lustig machen. 

Ist Talahon schon Jugendkultur? "Ja", sagt Psychologe Janssen, ist aber skeptisch, ob der Trend lange anhalten wird: "Talahon geht eigentlich an der Erwachsenenwelt vorbei, weil es in der Blackbox TikTok abläuft. Berichte darüber machen den Trend jetzt anschlussfähig." Gut findet der Psychologe die präventive Funktion von Talahon: "Wenn ich solche kreativen Sachen mit dem Handy mache, mache ich wenigstens keinen Blödsinn."  Dagegen betont Susanne Schröter die politische Relevanz der Talahons, ein Beleg für das Versagen von Migrationspolitik: "Viele der junge Leute sind vollkommen verloren", sagt die Ethnologin, "und niemand sagt ihnen, was für einen Quatsch sie da eigentlich machen."

Markenklamotten, Umhängetasche - das Outfit der TalahonsBild: Sebastian Gollnow/dpa/picture alliance

Auch die Wirtschaft setzt inzwischen auf den Talahon-Effekt: Eine deutsche Einzelhandelskette etwa bietet zwischen Fleischtheke und Backwerk "Talahon"-Waren an: Süßigkeiten, Instant Nudeln - und Energy-Drinks, und ein Lebensmittelhändler veröffentlichte kürzlich ein TikTok-Video, um für Nachwuchs zu werben: "Was geht, ihr Talahons. Ihr sucht eine Ausbildung?" Das Filmchen hatte in kürzester Zeit über 170.000 Klicks.

Und welcher Begriff hat sogar gute Chancen, am 19. Oktober zum "Jugendwort des Jahres" gekürt zu werden? Genau: der "Talahon".

Gestern Flüchtling, heute Fluchtfluencer

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