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Literatur

Juli Zeh: "Corpus Delicti"

Sabine Peschel
9. Oktober 2018

Wird ein Rechtssystem fragwürdig, wenn es Unfehlbarkeit beansprucht? Wie weit darf der Staat - mit besten Absichten - individuelle Freiheit beschränken? Juli Zehs philosophische Novelle provoziert hochaktuelle Fragen.

Leipziger Buchmesse 2016 | Schriftstellerin Juli Zeh
Bild: Imago/Star-Media

"Seit seiner Jugend hat Heinrich Kramer das Wohl des Menschen im Sinn." Kramer, smarter Talkmaster und Chefideologe des Staates "Methode", hat sich Mia Holl als Sparringspartnerin erwählt. Denn Mia Holl ist nicht mehr dieselbe, seitdem sich ihr Bruder im Gefängnis umgebracht hat. Die nüchterne Naturwissenschaftlerin vernachlässigt ihre Routine. Der Chip in ihrem Oberarm zeigt es an: Sie bewegt sich zu wenig, der Hometrainer steht still. Das Besteck zur Abnahme von Blutproben und die Becher für die regelmäßigen Urinproben bleiben unbenutzt. Gebrauchtes Geschirr stapelt sich auf ihrem Schreibtisch.

Statt sich gewissenhaft den Aufgaben zu widmen, die alle Bürger des nach der "Methode" geregelten deutschen Staates in der Mitte des 21. Jahrhundert zu erfüllen haben, zieht sich Mia in ihre Wohnung zurück - und trauert. Gesellschaft leistet ihr dabei nur die "Ideale Geliebte", eine fiktive Freundin, die ihr Bruder ihr hinterlassen hat. Sie, das anarchistische Phantasiegebilde, ist die einzige tröstliche menschliche Stimme in Mias Einsamkeit: "'Dieser Kramer ist ein Fanatiker', sagt die ideale Geliebte und wiegt Mia wie eine Mutter."

"Corpus Delicti" von Juli Zeh

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Zukunftsvision: Körperliches Wohl gleich glückliches Leben

Juli Zeh hatte "Corpus Delicti" zunächst als Theaterstück für die Ruhrtriennale 2007 geschrieben. Sehr erfolgreich wurde es damals in Essen uraufgeführt. Zwei Jahre später hat sie den Stoff ihrer Science Fiction Dystopie in Romanform aufbereitet und als Buch veröffentlicht.

Die Zukunft ist - wie auch in ihrem späteren Zukunftsroman "Leere Herzen" - nicht fern, die Gegenwart scheint nur ein wenig hochgerechnet. Auf den ersten Blick sieht das zukünftige Deutschland gar nicht schlecht aus: Städte schmiegen sich an den Wald, stillgelegte Fabriken dienen als Kulturzentren, aus Kirchen wurden Freilichtmuseen, auf der Autobahn fahren keine Autos mehr.

"Hier stinkt nichts mehr. Hier wird nicht mehr gegraben, gerußt, aufgerissen und verbrannt; hier hat eine zur Ruhe gekommene Menschheit aufgehört, die Natur und damit sich selbst zu bekämpfen."

Oberste Maxime in diesem Staat ist keine philosophisch begründete Ideologie, keine Religion, keine Idee, sondern die Pflege und Bewahrung der Gesundheit. Gesundheit als Voraussetzung für "ein möglichst langes störungsfreies und glückliches Leben."

Juli Zeh bezieht immer wieder Stellung zu politischen Fragen - wie auch 2014 in einer Diskussionsrunde zu EuropaBild: imago/Müller-Stauffenberg

Abweichungen gefährden die Staatsziele

Um das zu erreichen, wird das Verhalten der Menschen über implantierte Datenchips kontrolliert. Sie dürfen nichts Ungesundes zu sich nehmen, keinesfalls rauchen oder Alkohol trinken, selbst das Abwassser ihrer Wohnung wird auf schädliche Rückstände hin analysiert. Abweichungen darf es in diesem perfekten System nicht geben.

Weder Trauer noch Fehlbarkeit haben in diesem kontrollierten System Platz, denn beides führt zu Zweifeln, und Zweifel sind destabilisierend, und könnten die Volksgesundheit gefährden. Die einst unpolitische, geradlinige Mia, die ihrer Melancholie immer mehr verfällt, erfüllt die Normen nicht mehr. Sie wird angeklagt.

Aber es gibt sie, die Abweichler, die sich dagegen wehren, dass ihr privater Körper im Namen des Staates überwacht wird. Menschen wie Mias Bruder Moritz, der einfach nur unzielgerichtet leben wollte, rauchen wollte, die Füße in brackiges Wasser stecken, viele Frauen daten und seine Phantasie spielen lassen. Und der sich umbringt, als er für einen Mord büßen soll, den er nicht begangen hat. Moritz ist kein Oppositioneller, er ist nur ein freier Mensch.

Historischer Bogen, bis in die Zukunft gespannt

Daneben gibt es noch diejenigen, die sich tatsächlich gegen die "Methode" verschwören. Sie wollen nicht mehr hinnehmen, dass das Ergebnis der staatlich verordneten DNA-Untersuchung den Pool vorgibt, aus dem sie sich ihre Partner auswählen dürfen. Fast unfreiwillig gerät Mia in diesen Kreis.

Im Mai 2018 verlieh Bundespräsident Steinmeier Juli Zeh das BundesverdienstkreuzBild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

Juli Zeh ist Juristin und Schriftstellerin. In ihrem nüchtern erzählten Roman führt sie vor, was geschehen kann, wenn eine gute Absicht mit totalitären Mitteln durchgesetzt wird. Die historischen Bezüge zum 'unwerten Leben', das die Nationalsozialisten definierten und ausgemerzt haben, sind deutlich. "Santé" ist der zackige Gruß in der Fürsorgediktatur.

Und die Autorin greift historisch noch weiter zurück. Doppelbödig verweist sie auf die Hexenverfolgung früherer Jahrhunderte. Der Name Mia Holl erinnert an Maria Holl, die noch im 17. Jahrhundert als Hexe verbrannt wurde, Heinrich Kramer ist von dem Autor des im 15. Jahrhundert die Hexenverbrennungen rechtfertigenden Buches "Hexenhammer" abgeleitet.

Wann wird Widerstand zur Pflicht?

Dass es in ihrem Roman um den Körper geht, der zum Gegenstand einer Straftat wird - das Corpus Delicti -, und um Öko- und Gesundheitswahn, ist vielleicht nur ein Beispiel. Ein gesellschaftliches Feld, das für viele andere Entwicklungen stehen kann, die heute schon im Ansatz angelegt sind: Globale Internet-Kontrolle zur Verhinderung von Terrortaten, Videoüberwachung zur Verbrechensbekämpfung, umfassend eingeforderte Leistungsbereitschaft, Klassifizierung von Menschen...

Wie weit darf ein Staat die individuellen Rechte seiner Bürger einschränken? Gibt es ein Recht des Einzelnen auf Widerstand? Wann müssen Menschen als Staatsbürger Widerstand leisten? Juli Zehs Buch provoziert hochaktuelle Fragen. "Corpus Delicti" ist eine spannende Warnung vor dem Abgleiten in den totalen Überwachungsstaat, indem es zeigt, wie aus einer freien Gesellschaft schleichend eine unfreie wird.

 

Juli Zeh: "Corpus Delicti. Ein Prozess" (2014), Schöffling & Co.

Juli Zeh, geboren 1974 in Bonn, studierte Jura in Passau und Leipzig, dort auch am Literaturinstitut. Sie meldet sich immer wieder politisch engagiert zu zu Wort und bezieht Position zu aktuellen gesellschaftlichen Fragen. Ihre Bücher wurden vielfach ausgezeichnet und in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Ihr 2016 erschienener Gesellschaftsroman "Unterleuten" stand monatelang auf den Bestsellerlisten.

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