Julia Franck: "Die Mittagsfrau"
7. Oktober 2018Es gehört zum Grausamsten, das man sich vorstellen kann. Eine Mutter verlässt ihr eigenes Kind, lässt den siebenjährigen Sohn einfach auf einem Bahnsteig zurück. Wie konnte es dazu kommen? Was geht in einer Frau vor, die zu einem solchen Schritt fähig ist? Ist sie ein egoistisches Monster, eine Rabenmutter?
Kaltherzige Rabenmutter
Diese Ungeheuerlichkeit steht ganz am Anfang von Julia Francks Roman. Was folgt, ist der Versuch einer Erklärung. Eine weit ausgreifende Rückblende wirft Licht auf die Lebensgeschichte von Helene. Zugleich ist das Buch eine biografische Reflexion. Julia Francks Vater wurde 1945 als kleiner Junge von seiner Mutter auf der Flucht in den Westen zurückgelassen. Sie galt fortan als Ausgestoßene – kaltherzig, selbstverliebt.
Julia Franck versucht eine literarische Rekonstruktion dieser Frauenbiografie und spannt dafür den dramaturgischen Bogen über ein halbes Jahrhundert. Mit diesem historischen Familienpanorama überzeugte die Berlinerin 2007 die Jury des Deutschen Buchpreises, sie gewann die renommierte Auszeichnung. Nicht zuletzt wegen ihrer vielschichtigen, mutigen Hauptfigur.
Helene wächst mit ihrer Schwester in bedrückenden Verhältnissen auf. Die Mutter ist gefühlskalt und geistig verwirrt, der Vater vom Ersten Weltkrieg traumatisiert. Nach seinem Tod ziehen die beiden Schwestern nach Berlin. Die pulsierende Metropole wird ihre Spielwiese. Sie tanzen, verlieben sich, schmieden Pläne für ein selbstbestimmtes Leben. Bis Helenes große Liebe plötzlich stirbt. Und mit ihm scheinbar auch ihre Träume für die Zukunft.
Flucht in die Ehe
Aus einem Gefühl der Gleichgültigkeit heraus geht sie Jahre später eine unglückliche Ehe mit einem grobschlächtigen, antisemitischen Ingenieur ein, der ein Kind entspringt. Die perfiden Demütigungen ihres Ehemannes erduldet sie still.
"Als der kleine Junge nachts schrie und Helene aufstand, um ihren Peter zu sich ins Bett zu holen, sagte Wilhelm mit dem Rücken zu ihr: Ich glaube, dir geht's zu gut. Setz dich in die Küche, wenn es sein muss. Ein arbeitender Mann braucht seinen Schlaf. Helene tat, was er befahl. Sie setzte sich mit ihrem Kind in die kalte Küche und stillte es dort, bis es schlief. Doch sobald sie es in sein Körbchen legen wollte, wachte es auf und weinte. Nach zwei Stunden schlich sie erschöpft in das Schlafzimmer."
Julia Franck zeigt, wie die emotionale Entfremdung das ganze Leben dieser Frau von Beginn an bestimmt hat. Es ist eine Teufelsspirale aus Nähe und Distanz, die aus einer lebensbejahenden jungen Frau eine apathische Mutter werden lässt. Eine Mutter, die schließlich ihr Kind verlässt, um sich selbst nicht endgültig zu verlieren.
Dass Julia Franck am strahlenden Bild der aufopfernden Mutter rüttelt und damit ein Tabu bricht, erzürnte beim Erscheinen ihres Buches einige Kritiker. Es gehört zu den Stärken dieses Romans, dass am Ende Helenes Verhalten nicht entschuldigt wird, der Leser aber genau versteht, warum diese Frau diese ungeheuerliche Entscheidung trifft.
Julia Franck: "Die Mittagsfrau" (2007), S. Fischer Verlag
Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Neuere Deutsche Literatur. Ihr Debüt erschien 1997, "Der neue Koch", danach "Liebediener" (1999), "Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen" (2000) und "Lagerfeuer". (2003). Dieser Roman wurde 2012/13 für das Kino unter dem Titel "Westen" verfilmt. Für "Die Mittagsfrau" erhielt Julia Franck 2007 den Deutschen Buchpreis 2007. Das Buch wurde über 1 Millionen Mal verkauft. Ihre Bücher wurden in fast 40 Sprachen übersetzt.