1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

USA dringen weiter auf Assange-Auslieferung

11. August 2021

Auch unter Präsident Joe Biden verfolgen die USA den Wikileaks-Gründer. An diesem Mittwoch beginnt die erste Anhörung im Berufungsverfahren. Ohne Schuldspruch sitzt Assange weiter im Hochsicherheitsgefängnis.

"Truth is not a crime" steht auf einem Plakat, das Unterstützer von Julian Assange vor dem Londoner Gerichtsgebäude Old Bailey Anfang Januar hochhalten
"Wahrheit ist kein Verbrechen": eine Assange-Unterstützerin in LondonBild: Henry Nicholls/REUTERS

Müssen Journalisten im Westen mit Verfolgung rechnen? Seit mittlerweile elf Jahren kann jedenfalls Julian Assange nicht mehr in Freiheit leben, knapp 4000 Tage und Nächte. Seine letzten drei Geburtstage verbrachte der Wikileaks-Gründer im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, das für harte Haftbedingungen bekannt ist. Anträge auf Entlassung auf Kaution oder in den Hausarrest wurden abgelehnt. Und so muss der Journalist weiter ohne Schuldspruch hinter Gittern auf die Entscheidung warten, ob Großbritannien ihn an die USA ausliefern wird. Wegen seiner Veröffentlichungen drohen Assange dort bis zu 175 Jahre Haft. Wikileaks hatte unter anderem das brutale Vorgehen der USA in Afghanistan und im Irak aufgedeckt und schwere Kriegsverbrechen enthüllt – für die bislang niemand zur Verantwortung gezogen wurde. 

Die USA werfen Assange vor, durch Diebstahl und Veröffentlichung von geheimem Material von Militäreinsätzen das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht zu haben. Hunderte Informanten seien nach der Veröffentlichung entweder verschwunden oder hätten ihren Aufenthaltsort wechseln müssen, sagte etwa im Auslieferungsverfahren Anwalt James Lewis, der die USA vertritt. Er musste allerdings hinzufügen: "Die USA können derzeit nicht beweisen , dass ihr Verschwinden auf die Enthüllungen von Wikileaks zurückzuführen ist."  

Assange droht Auslieferung

Zwar hatte am 4. Januar ein Londoner Gericht in erster Instanz entschieden, Julian Assange nicht an die USA auszuliefern. Das hatte zunächst Erleichterung ausgelöst bei Menschenrechtlern, Journalistenverbänden, Unterstützern. Aber die dauerte nur so lange, wie es brauchte, die Urteilsbegründung zu lesen. Die Richterin habe "ausschließlich den humanitären Grund gelten lassen, dass Assange in den USA unmenschliche Haftumstände zu erwarten hat", erklärt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Margit Stumpp im Gespräch mit der DW. "Sie hat keinen der Gründe der USA für die Auslieferung abgelehnt oder auch nur hinterfragt. Deswegen droht Julian Assange die Auslieferung, wenn die USA nachweisen, dass die Haftbedingungen so sein werden, dass seine Gesundheit gesichert ist und damit auch sein Leben."

Und darum wird es gehen in dem Berufungsverfahren, das die USA gegen die Entscheidung vom Januar angestrengt haben. 

Julian Assange im Januar - das Auslieferungsverfahren kann sich noch Jahre hinziehenBild: Elizabeth Cook/AP Photo/picture alliance

Hauptbelastungszeuge hat Vorwürfe erfunden

Bittere Ironie: Die Richter am High Court haben die Berufung der USA zugelassen nur wenige Tage nachdem der isländische Hauptbelastungszeuge Sigurdur Ingi Thordarson im Interview mit der Zeitung Stundin sagte, dass seine Vorwürfe gegen Julian Assange erlogen waren und er dafür sowohl die Zusicherung von Straffreiheit wie auch Geld erhalten habe.

Insgesamt habe das britische Justizsystem durch das Verfahren an Vertrauen eingebüßt, diagnostiziert Christian Mihr, Deutschlandchef von Reporter ohne Grenzen (RoG). Das habe bereits beim Zugang der Öffentlichkeit zum Auslieferungsverfahren begonnen. "Der war sehr schwer", sagt Mihr. "Da wurde ein fundamentales rechtsstaatliches Prinzip verletzt: Nämlich die Öffentlichkeit in der Justiz."

Wird das im Berufungsverfahren besser? Die RoG-Direktorin für Großbritannien, Rebecca Vincent, jedenfalls twitterte am Montag (09.08.2021) frustriert: " Ich habe es bereits gesagt und ich sage es erneut: Ich hatte noch nie so große Schwierigkeiten, in irgendeinem Fall, in irgendeinem Land, Zugang zu einem Verfahren zu bekommen, wie im Fall Assange."
Für den Menschenrechtsaktivisten Christian Mihr steht ohnehin fest: Es handele sich um ein politisches Verfahren und die USA müssten das stoppen. Mit Joe Biden ist mittlerweile der dritte US-Präsident in die Verfolgung Julian Assanges involviert: Die Ermittlungen wurden von der Regierung Obama eingeleitet. Donald Trump ließ ihn anklagen. Und Joe Biden hat bislang den Appellen, die Verfolgung einzustellen, kein Gehör geschenkt.

Merkel, Biden - und Assange?

Ob sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel bei ihrem Besuch in Washington Mitte Juli für die Freilassung von Julian Assange eingesetzt hat, ist nicht bekannt. Aufgefordert dazu hatten sie 120 prominente Unterzeichner eines offenen Briefes, darunter Bundestagsabgeordnete, ehemalige Bundesminister, Künstler, Journalisten. 

Auch Margit Stumpp hat den Brief unterzeichnet. Für die Grünen-Abgeordnete wäre die Auslieferung und Verurteilung von Assange ein "verheerendes Signal an Journalistinnen und Journalisten", sagte Stumpp der DW. "Wer investigativ arbeitet, müsste sich in Zukunft ständig durch demokratisch legitimierte Staatsgewalt bedroht fühlen. Die Freiheit der Presse auch in Europa wäre extrem eingeschränkt. Die Kontrollfunktion und damit ein wesentliches Element der Demokratie funktionierte nicht mehr, sondern würde kriminalisiert." Für die Abgeordnete ein Angriff auf die Grundfesten unserer demokratischen Grundordnung.

Gemeinsam mit anderen Bundestagsabgeordneten gehört Stumpp der fraktionsübergreifenden Arbeitsgruppe "Freiheit für Julian Assange" an. So wie der Sozialdemokrat Frank Schwabe. Der Umgang mit Assange sein in keiner Weise mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbar, kritisiert der SPD-Mann. Gegenüber der DW erklärt Schwabe weiter, "bei Whistleblowing wird der Eindruck vermittelt, dass es sich um Schwerstkriminalität handelt und andere sollen abgeschreckt werden. Ich glaube, Whistleblowing ist dringend notwendig und wir müssen Whistleblower schützen". 

Doppelmoral freut Autokraten

Autokraten und Diktaturen beobachten sehr genau den Umgang der USA – und Großbritanniens - mit Julian Assange und anderen Whistleblowern. Ihnen ermöglicht der Umgang mit dem Wikileaks-Gründer, westliche Kritik am Zustand der Pressefreiheit in ihren Ländern als Doppelmoral abzutun. So wie es die chinesische Außenamtssprecherin Hua Chunying Anfang Mai tat.Auch deshalb fodert Margit Stumpp: "Wenn die USA und die westliche Staatengemeinschaft glaubhaft für den Schutz von Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit einstehen wollen, müssen sie aufhören, an Julian Assange ein Exempel für die Verfolgung unliebsamer Journalisten zu statuieren."

Die Ablehnung einer Freilassung von Julian Assange auf Kaution hält die Grünen-Politikerin angesichts der schweren Haftbedingungen für einen rechtsstaatlichen und humanitären Skandal.

Zynische Prozesstaktik?

Der UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer sieht darin zynische Prozesstaktik. Im DW-Gespräch betont der Schweizer Rechts-Professor, Haft und Haftbedingungen von Assange seien weder erforderlich noch verhältnismäßig. Aber weil Assange demonstrativ in einem Hochsicherheitsgefängnis gehalten werde, könne man sagen: "Er hat ja keinen Selbstmordversuch unternommen. Wenn wir ihn in den USA in ein Hochsicherheitsgefängnis stecken, wo die Bedingungen ähnlich sind, gibt es kein Argument mehr, Assange nicht auszuliefern".

Nils Melzer hat im April ein Buch über den "Justizskandal" Assange vorgelegtBild: picture alliance/KEYSTONE/S. Di Nolfi

Ohnehin hätten die USA in diesem Berufungsverfahren die komplette Kontrolle über den Ausgang, weil ja ausschließlich über die Haftbedingungen verhandelt werde. Und da könnten die Amerikaner beliebig Garantien geben. Deshalb hat nach Informationen von Melzer auch das Anwaltsteam von Assange Berufung gegen das Urteil vom Januar eingelegt: Sie widersprechen den Auslieferungsgründen nach dem Spionagegesetz von 1917.

Zum Auftakt der Berufungsverhandlung erweiterte der Vorsitzende Richter am Londoner High Court den Umfang des Verfahrens, dem Assange sich im Oktober stellen muss: Er ließ zwei weitere von der US-Seite vorgebrachte Themenkomplexe dafür zu. So soll die Unabhängigkeit eines Experten, der für die Verhandlung in erster Instanz ein psychologisches Gutachten angefertigt hatte, überprüft werden. Und auch die Einschätzung der damals zuständigen Richterin, Assange könne sich in US-Haft das Leben nehmen, soll nochmals überprüft werden - auch diese Forderung hatte die Anwältin gestellt, die die USA in dem Verfahren vertritt.

Die Auslieferungsentscheidung kann sich noch Jahre hinziehen. Was durchaus im Interesse der USA liegen könnte. Julia Hall, Menschenrechtsexpertin von Amnesty erklärte Ende Juli: "Die Strategie besteht darin, Assange so lange wie möglich in Haft zu halten. Das ist eine Art 'Tod durch tausend Schnitte'."