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Politik

"Es kommt auf die Substanz an"

Lars Scholtyssyk
28. Februar 2018

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereist die sechs Länder des Westbalkans, die eine EU-Beitrittsperspektive haben. Seine Botschaft "Qualität vor Schnelligkeit" wird nicht überall mit Begeisterung aufgenommen.

Der Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker kommt im Regierungsgebäude in Skopje an
Bild: Getty Images/R.Atanasovski

Deutsche Welle: Herr Juncker, in den Ländern des Westbalkans - Serbien, Montenegro, Mazedonien, Albanien, Bosnien/Herzegowina und dem Kosovo - ist die Hoffnung groß, dass sie in absehbarer Zeit der EU beitreten können. Wann werden diese Länder so weit sein?

Jean-Claude Juncker: Ich habe zum Beispiel in Mazedonien, FYROM (Former Yugoslav Republic of Macedonia), wie man das im diplomatischen Jargon nennt, festgestellt, dass die Mazedonier erhebliche Fortschritte in Richtung Europa machen. Aber ich habe niemandem ein Beitrittsdatum versprochen. Und auch denjenigen, die sich noch nicht in Verhandlungen befinden, habe ich kein Datum für den Beginn der Verhandlungen genannt. Mir kommt es auf die Substanz an und nicht auf kalendarische Vorfestlegungen. Termine interessieren mich, aber nicht so, dass ich die Substanz der Verhandlungen vergessen wurde. Das hat man in Mazedonien verstanden, in Albanien ein bisschen weniger, aber Albanien befindet sich ja auch noch nicht in Verhandlungen. Wir werden in April unsere Empfehlungen diesbezüglich machen, aber wie diese Empfehlungen ausfallen werden, kann ich aus heutiger Sicht nicht voraussagen. Denn es müssen noch Substanzfortschritte gemacht werden. Das werden wir bis April prüfen müssen.

Gerade in Albanien ist die Unterstützung in der Bevölkerung für einen EU-Beitritt sehr groß. Müssen Sie da überhaupt noch Überzeugungsarbeit leisten?

Serbien führt die Beitrittsverhandlungen mit der EU seit 2014Bild: DW/S. Kljajic

Ich muss ja nicht die Albaner davon überzeugen, Mitglied der EU zu werden. Aber ich muss in Albanien wie auch sonst darauf aufmerksam machen, dass die Beitrittsbedingungen erfüllt werden müssen. Zu diesen Beitrittsbedingungen gehört, dass alle Staaten in der Westbalkanregion ihre Grenzkonflikte beilegen müssen. Wir können nicht Grenzkonflikte in die EU importieren. Wir müssen Stabilität in den Raum bringen, möchten aber keine Instabilität als Gegengeschenk haben.

Was wollen Sie den Menschen in der Region mitteilen, was sollen sie über die EU wissen?

Das ist sehr vielschichtig. Eins ist mir aber wichtig: Ich möchte deutlich machen, dass die EU nicht ein Klub von Wirtschaftsmächten ist, die sich bereichern möchten. Natürlich: Man strebt Wohlstand für alle an. Aber mir kommt es darauf an, in dieser dramatisch schwierigen europäischen Region deutlich zu machen, dass die EU auch eine Wertegemeinschaft ist. Rechtsstaat, Menschenrechte, Pressefreiheit - das sind Themen, die ich hier manchmal etwas näher erläutern muss.

Und wie wollen Sie die Menschen in der EU davon überzeugen, dass diese Erweiterung eine gute Idee ist?

Es gibt unverkennbar eine Erweiterungsmüdigkeit in der EU. Man muss erklären, dass der Westbalkan vor der Haustür liegt. Die Wege sind kurz, es ist aber eine lange historische Strecke, die zurückgelegt werden muss. Vor nicht so langer Zeit gab es hier einen heftigen Krieg. Und wenn wir dem Westbalkan die Beitrittsperspektive wegnehmen, dann kann sich das sehr schnell wiederholen. Kaum jemand erinnert sich daran, aber das war sozusagen gestern: lange Flüchtlingszüge, Vergewaltigungen, Mord, Kindersterben, Zerstörungen. Es war Krieg mitten in Europa. Ich hätte nicht gerne, dass sich das wiederholt.

Wir alten Europäer müssen wissen, dass von hier eine Friedensbotschaft ausgehen kann, ein Beitrag zur europäischen Beruhigung. Wenn wir aber nicht dazu bereit sind, unseren Balkanpartnern den Beitritt zu ermöglichen, dann könnte alles wieder schlimmer werden.

Sie haben mal gesagt, wer an Europa zweifelt, der solle sich die Soldatenfriedhöfe anschauen. Ist das ein Satz, den Sie auch auf diese Region übertragen?

Hier gibt es viele Soldatenfriedhöfe. Und was wir in Westeuropa erlebt haben, das ist hier jüngeren Ursprungs. Der Satz, den ich mal mit Blick auf Westeuropa gesagt habe, der trifft hier dramatisch zu.

Ich weiß, dass viele Menschen ungeduldig werden, vor allem viele junge Menschen. Es gibt viele Albaner, Mazedonier, Serben, die in den Rest Europas auswandern, weil sie keine Perspektive mehr sehen. Diese Auswanderung der Intelligenz ist weder im Interesse dieser Länder noch im Interesse der EU. Der Balkan braucht eine feste europäische Perspektive, aber ich lasse mich nicht über den Tisch ziehen. Also: Erst Substanz, dann Kalender.

Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Botschaften ankommen?

Es bleibt den Beitrittskandidaten ja keine andere Wahl, als auf das zu hören, was die Kommission hier vorbringt. Wir müssen Empfehlungen formulieren. Es geht also darum, dass die Botschaft entgegen genommen wird, und dass man sich auf diese Botschaft als eine Messlatte einlässt. Aber ich mache nicht gerne den Eindruck, dass wir hier Lektionen erteilen. Es sind Staaten und Nationen, die aus einer schwierigen Geschichte der 1990er Jahre erwachsen sind, und man muss darauf Rücksicht nehmen. Gleichzeitig muss aber klar sein, dass die EU eine wertefundierte Gemeinschaft ist. Deswegen kann man hier nicht mit Kusshand kommen und Pralinen verteilen.

Bosnien/Herzegowina ist von der EU noch weit entferntBild: picture-alliance

In dem Strategiepapier der EU für Westbalkan ist auch von der Eigeninitiative der Beitrittskandidaten die Rede. Was bedeutet das?

Die Kandidatenländer werden aufgrund ihrer eigenen Verdienste von der Kommission und von anderen Ländern bewertet, und da ist die Eigeninitiative schon sehr wichtig. Wir können die Erweiterung den Ländern nicht überstülpen. Wir zwingen ja niemandem, der EU beizutreten. Wer es an eigener Initiative fehlen ließ, der hat schlechte Aussichten, ein Mitgliedsland der EU zu werden. Jeder muss sich selbst anstrengen. Es ist nicht so, dass die EU die Last der Beitrittskandidaten tragen kann. Nein, sie müssen ihre Säcke selbst stapeln.

Jean-Claude Juncker ist ein luxemburgischer Politiker der Christlich Sozialen Volkspartei. Seit dem 1. November 2014 ist er Präsident der Europäischen Kommission.

Das Gespräch führte Lars Scholtyssyk

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