"Sie haben in Libyen die Hölle gefunden"
27. November 2017Am Donnerstag treffen sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union und Afrikas in Abidjan. Hauptthema beim Gipfel am Regierungssitz der Elfenbeinküste wird die Migration aus Afrika nach Europa sein: Tausende Menschen versuchen jeden Monat über das Mittelmeer in die EU zu gelangen. Doch diese Route versucht die EU gemeinsam mit dem Transitland Libyen und afrikanischen Herkunftsländern zu schließen. Vor dem Gipfel in Abidjan hat Max Hofmann mit dem Präsidenten der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, in Brüssel gesprochen.
Deutsche Welle: Herr Juncker, Sie sagen, Afrikaner und Europäer wären gleich. Jetzt haben wir in Libyen eine Situation, in der Menschen, die eigentlich nach Europa auswandern wollen, wie Sklaven verkauft werden. Müsste Europa nicht mehr dagegen unternehmen?
Jean-Claude Juncker: Europa darf nicht den Mund halten angesichts dieser unglaublichen Probleme, die aus einem anderen Jahrhundert stammen. Afrika kennt das Problem der Sklaverei gut. Ich bin erschüttert von den Informationen, die mich aus Afrika erreichen. Wir kennen die Probleme Libyens. Libyen ist kein Staat wie jeder andere. Und es ist weder denkbar noch akzeptabel, dass Europa seine Augen schließt vor diesem Drama, das ein alltägliches Drama für viele Menschen - Kinder, Frauen und Männer - in Libyen ist. Ich wollte bereits bei einem anderen Gipfel erreichen, dass wir all unsere Aufmerksamkeit auf dieses Problem lenken. Ich kann nicht ruhig schlafen bei dem Gedanken, was jenen Menschen in Libyen passiert, die ein besseres Leben finden wollen. Sie haben in Libyen die Hölle gefunden.
Sind Sie schockiert? Man wusste, dass die Situation in Libyen schwierig ist, aber das Ausmaß, dass Menschen wie Sklaven versteigert werden, hat Sie das sehr schockiert?
Ja, ich war sehr schockiert. Bis vor zwei Monaten wusste ich nicht, dass das Problem dieses Ausmaß hat. Es ist ein dringliches Phänomen geworden. Obwohl Europa ordentliche Beziehungen zu Libyen hat, dürfen wir nicht den Mund halten und das werden wir auch nicht.
Aber ist das nicht auch ein direktes Resultat davon, dass die Kontrollen im Mittelmeer verstärkt wurden und es schwieriger wurde, nach Europa zu kommen?
Die Kontrollen wurden verbessert, aber das war notwendig. Die Tatsache, dass es in Libyen eine steigende Zahl von Migranten gibt, die Europa nicht mehr über das Mittelmeer erreichen können, ist kein ausreichender Grund, um Menschen zu verletzten, zu töten und zu bestehlen, die sich in Lagern befinden, die Gefängnissen gleichen und keinen Flüchtlingslagern.
Müsste man nicht legale Wege der Migration finden, um dieses Problem zu mindern?
Seit 2014, seit dem Wahlkampf für die Europawahlen und auch bei meiner Ansprache im Europaparlament habe ich immer für die legale Migration plädiert. Ich glaube, dass wir ohne legale Migrationswege nach und innerhalb Europas verloren sind. Wenn die, die hier unglücklich ankommen, das Haus Europa nicht durch die Haustüre betreten können, werden sie weiterhin versuchen, durch die Hintertür hereinzukommen. Daher brauchen wir legale Wege, und die Kommission hat bereits Vorschläge gemacht. Europa hat einen offensichtlichen Bedarf an der Migration in den kommenden Jahrzehnten. Daher müssen wir jenen, die kommen wollen und kommen können, legale Wege nach Europa ermöglichen.
Warum funktioniert das nicht? Warum gibt es soviel Widerstand?
Wir haben die Mitgliedsstaaten der EU in die Pflicht genommen: Wir werden sehen, was die Mitgliedstaaten machen werden. Die Mitgliedsstaaten folgen nicht immer den Vorschlägen der Kommission. Die Kommission hat 2001 ein System zum Schutz der Außengrenzen vorgeschlagen, das die Staaten abgelehnt haben, um es dann später einzufordern. Also gibt es jetzt gemeinsame Kontrollen der Außengrenzen.
Wir müssen es der Vorstellung derjenigen überlassen, die in den Mitgliedsstaaten regieren, wie wir die großen Herausforderungen unserer Epoche lösen. Und die Migration ist eine große Herausforderung unserer Zeit. Wir müssen nicht nur die Zukunft vorbereiten, sondern wir hätten schon gestern die Gegenwart vorbereiten sollen.
Töten die Angst vor der Migration und die Angst vor den Populisten den Verstand der Mitgliedsstaaten?
Die Populisten sind an sich gefährlich. Aber es wird noch gefährlicher, wenn die traditionellen, klassischen Parteien ihre schädlichen Vorschläge aufgreifen. Dass die traditionellen Parteien den Populisten nacheifern, ist in einigen Mitgliedsstaaten bereits ein erkennbares Phänomen geworden. Aber man darf keine Angst vor den Populisten haben, man muss jene mögen, die sie bekämpfen.
Das ist das, was geschehen sollte, aber nicht das, was passiert. Hat die Angst den gesunden Menschenverstand zum Schweigen gebracht?
Aber nein, es gibt die Vorschläge der EU-Kommission, die auch die Zustimmung des Parlaments haben. Jetzt liegt es an den Mitgliedsstaaten, den Weg der Vernunft einzuschlagen.
Sie haben zu mehr Solidarität mit Afrika aufgerufen. Geht diese Solidarität über das Geld hinaus?
Das ist eine Solidarität, die alle Bereiche des internationalen Lebens betreffen muss. Afrika muss sich dessen bewusst werden, dass Europa keinen Abstand zu den allgemeinen Ambitionen Afrikas anstrebt. Afrika ist kein Kontinent, der erst morgen in unseren Geschichtsbüchern erscheinen wird. Afrika war schon immer Teil unserer Geschichte, auch wenn manche Europäer das nicht sehen wollten.
Jean-Claude Juncker (62) ist seit 2014 Präsident der Europäischen Kommission in Brüssel. Zuvor war der Christdemokrat aus Luxemburg von 1995 bis 2013 Ministerpräsident seines Landes. Außerdem war er bis 2013 Vorsitzender der Euro-Gruppe.
Das Interview führte Max Hofmann.