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Wende in der EU-Flüchtlingspolitik?

Bernd Riegert8. September 2015

Die EU braucht eine solidarische Flüchtlingspolitik. Davon ist EU-Kommissionspräsident Juncker überzeugt. Mit einer Rede im EU-Parlament will er den Widerstand der Mitgliedsstaaten brechen. Aus Straßburg Bernd Riegert.

Flüchtlinge kommen in München an (Foto: Michaela Rehle/Reuters
Ankommende Flüchtlinge in München: Odyssee durch EuropaBild: Reuters/M. Rehle

Die Rede von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zur "Lage der Union" am Mittwoch wird mit Spannung erwartet, weil er neue Vorschläge zur Eindämmung der Flüchtlingskrise angekündigt hat. Sein Chef werde das Rad aber nicht neu erfinden, deutete der Sprecher Junckers, Magaritis Schinas, schon im Vorfeld an. Die EU-Kommission werde auf den bereits im Mai veröffentlichten Plänen für eine europäische Migrationspolitik aufbauen und Juncker werde die Vorschläge "ausweiten und konkreter machen".

Angeblich hat sich Juncker vor seiner Rede mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Staatspräsidenten François Hollande abgesprochen, die seine Vorschläge unterstützen sollen. Mit Widerstand muss Juncker aber aus den osteuropäischen Mitgliedsstaaten und aus Großbritannien rechnen. Die vier "Visegrad"-Staaten, also Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn, lehnen die Verteilung von Flüchtlingen nach einem verpflichtenden Schlüssel weiter ab.

Allerdings äußerte sich der ungarische Ministerpräsident Victor Orban nach seinem Besuch bei der EU-Kommission letzte Woche zumindest intern etwas kompromissbereiter. Ungarn könne das System ins Auge fassen, wenn es dadurch weniger Flüchtlinge aufnehmen müsse, sagte Orban nach Angaben von EU-Diplomaten.

Hier sind einige der Kernpunkte, die Jean-Claude Juncker ansprechen wird:

Verteilung von Flüchtlingen

Die EU sollte aus Ländern, die besonders belastet sind, Flüchtlinge und Asylsuchende in andere EU-Staaten umsiedeln, auch gegen den Willen der Antragsteller. Die Umverteilung soll nach einem festen Schlüssel erfolgen, der sich nach Faktoren wie Wirtschaftskraft, Bevölkerungszahl, Arbeitslosigkeit und der bisherigen Zahl der Asylbewerber berechnet. Diesen Schlüssel hatte Jean-Claude Juncker bereits im Mai vorgelegt. Eine Verpflichtung, ihn auch anzuwenden, wies eine Mehrheit der Mitgliedsstaaten der EU zurück. Nur eine freiwillige Umverteilung war für die meisten Staaten akzeptabel.

Juncker: Komplexes Knäuel an ProblemenBild: P. Hertzog/AFP/Getty Images

Im Mai wollte die EU-Kommission nur eine Umverteilung aus Italien und Griechenland in die übrigen 26 EU-Staaten organisieren. Angesichts der ständig steigenden Flüchtlingszahlen sollen jetzt auch Umsiedlungen aus Ungarn, Österreich und eventuell sogar Deutschland erfolgen. Insgesamt will Jean-Claude Juncker 160.000 Flüchtlinge und Asylbewerber neu verteilen. Dieser Plan muss vom Europäischen Parlament und von einer qualifizierten Mehrheit der Mitgliedsstaaten gebilligt werden. Unklar ist, wie Asylbewerber gezwungen werden sollen, sich tatsächlich beispielsweise nach Polen umsiedeln zu lassen, wenn sie eigentlich nach Deutschland wollen.

Aufnahmezentren

Viele Mitgliedsstaaten, zum Beispiel Österreich und Deutschland, sprechen sich für die Einrichtung großer Aufnahmezentren (Hot spots) in Griechenland, Italien und eventuell Ungarn aus, um dort alle Flüchtlinge und Asylbewerber, kurz nach der Einreise in die EU zu registrieren und auch schon eine Unterscheidung zwischen echten Flüchtlingen, Asylbewerbern mit triftigen Gründen und offensichtlichen Wirtschaftsmigranten zu machen.

Menschen, die keine Aussicht auf Asyl haben, sollen bereits aus den Aufnahmezentren wieder in ihre Heimat abgeschoben werden. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wird diesen Ansatz wohl unterstützen, allerdings wissend, dass der Aufbau dieser Aufnahmezentren einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Im Moment gibt es nach Angaben der Grenzschutzagentur Frontex nur einen Pilotversuch in Catania auf Sizilien und eine erste Arbeitsgruppe in Piräus in Griechenland. Bislang sahen Italien und Griechenland diese Zentren skeptisch, denn konsequent ausgeführt müssten Tausende, wenn nicht Zehntausende Menschen in diesen Lagern untergebracht werden. Griechenland ist ja jetzt schon heillos mit der Versorgung von 25.000 Flüchtlingen auf den Ägäis-Inseln überfordert oder hat damit noch nicht einmal begonnen.

Grenzsicherung

Damit eine Registrierung der Flüchtlinge und Asylbewerber in Aufnahmezentren überhaupt funktionieren könnte, müsste jeder, der über andere Wege in die EU einreisen will, konsequent davon abgehalten werden. Darauf weist der österreichische Außenminister Sebastian Kurz immer wieder hin. Die Sicherung der EU-Außengrenzen müsste also wesentlich verstärkt werden. Der Zaun zwischen Serbien und Ungarn wäre da nur ein Anfang. Nur wenn die Außengrenzen geschützt seien, könne auf mittlere Sicht die Reisefreiheit im Inneren der EU - Stichwort Schengen - aufrechterhalten werden, so Kurz.

Wo ist die Solidarität? Merkel und Orban im Februar in BudapestBild: Reuters/L. Balogh

Dublin-Regeln

Unklar ist, ob Jean-Claude Juncker eine konkrete Reform der Dublin-Regel vorschlagen wird, nach der der Staat der ersten Einreise für den Flüchtling oder Asylbewerber verantwortlich ist. Viele europäische Politiker sind sich einig, dass die Regel nicht funktioniert. Asylsuchende können fast ungehindert aus Griechenland und Italien in andere EU-Staaten reisen. Der klägliche Versuch der ungarischen Behörden, die Regel anzuwenden und die Flüchtlinge und Asylbewerber zu registrieren, scheiterte am Unvermögen der Behörden, aber auch am Unwillen der Flüchtlinge, sich überhaupt registrieren zu lassen und in Ungarn Asyl zu beantragen.

Vollends außer Kraft gesetzt hat Bundeskanzlerin Angela Merkel die Dublin-Regel, als sie am Wochenende angesichts einer "akuten Notlage in Ungarn" die Einreise aller Flüchtlinge nach Deutschland gestattete. Zwar besteht Deutschland jetzt darauf, dass es sich um eine Ausnahme gehandelt habe und Dublin weiter gelte, aber Politikwissenschaftler und auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban machen der deutschen Kanzlerin schwere Vorwürfe. Durch ihren einseitigen Schritt, habe sie einen weiteren Zustrom von Asylbewerbern und Flüchtlingen quer durch Europa geradezu provoziert.

Sichere Herkunftsstaaten

Der EU-Kommissionspräsident wird eine Liste mit sicheren Herkunfts- und Transitstaaten präsentieren, die in unmittelbares europäisches Recht münden soll. Bislang können die Mitgliedsstaaten eigene Listen führen und fällen bei Asylbewerbern aus dem Irak, dem Kosovo, Albanien oder der Türkei sehr unterschiedliche Entscheidungen. Jetzt sollen alle Balkanstaaten und die Türkei sowie einige afrikanische Länder für sicher erklärt werden. Als Konsequenz könnten Asylbewerber aus diesen Staaten nach kürzeren Verfahren schneller abgeschoben werden. Theoretisch könnten dann auch syrische Flüchtlinge, die sich bereits in der Türkei aufgehalten haben, an der griechischen Grenze abgewiesen und ohne Prüfung zurückgeschoben werden.

Zusammenarbeit mit den Herkunftsländern

Jean-Claude Juncker will einen "Treuhand-Fonds" für Afrika vorschlagen, der mit zunächst 1,5 Milliarden Euro starten soll. Aus diesem Fonds sollen Projekte finanziert werden, um Ausreisewilligen neue Perspektiven in ihren Heimatstaaten am Horn von Afrika und in der Sahelzone zu bieten, sagte EU-Entwicklungshilfekommissar Neven Mimica vor der Rede des Kommissionspräsidenten in Straßburg.

Bekämpfung des Menschenschmuggels

Die EU-Kommission tritt dafür ein, vor der libyschen Küste die Schlepperbanden stärker zu bekämpfen. Das hatte bereits ein Flüchtlingsgipfel der EU im April beschlossen. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier will, dass sich auch die Bundesmarine an der Zerstörung von Schlepperbooten beteiligt. Bislang sehen die meisten EU-Mitgliedsstaaten diesen Ansatz aber zögerlich. Ein angestrebtes Mandat der Vereinten Nationen für diesen Militäreinsatz kam bislang nicht zustande. Auch mit der Türkei müsse über eine bessere Bekämpfung von Schlepperbanden an der türkischen Küste dringend verhandelt werden, forderte der Chef der konservativen Fraktion im Europäischen Parlament, Manfred Weber (CSU).

Polizisten gegen Flüchtlinge auf LesbosBild: Getty Images/AFP/A. Tzortzinis

Akute Notfallhilfe

Nach Schätzungen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) sind allein auf den griechischen Inseln wieder 30.000 Menschen gestrandet, die weiter nach Nordeuropa wollen. Auch an der mazedonisch-griechischen und an der serbisch-ungarischen Grenze sammeln sich Tausende. Um wenigstens die Unterbringung und Versorgung dieser Flüchtlinge zu verbessern, zahlt die EU-Kommission Hilfsgelder aus einem speziellen Migrationsfonds aus.

Ansonsten bleiben EU-Kommissionspräsident Juncker und seinem Flüchtlingskommissar Dimitris Avramopoulos nur Appelle, die Flüchtlinge menschlich zu behandeln. "Die Krise ist nicht weit weg, sondern nach und nach wird sie an die Türe eines jeden Mitgliedsstaates klopfen", meinte Avramopoulos nach dem Besuch eines Flüchtlingslagers bei Wien. "Diese Krise wird noch lange dauern, so lange wie die Ursachen, die Konflikte um uns herum nicht gelöst sind."

Am kommenden Montag beraten die Innenminister der 28 Mitgliedsstaaten über Junckers Vorschläge. Dann wird man sehen, ob die Rede Eindruck gemacht haben wird, denn bislang waren die Minister hauptsächlich zerstritten.

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