Junge Geflüchtete, die einfach verschwinden
22. April 2021Die Zahl schockiert. 18.292 Kinder und Jugendliche, einfach so weg. Vermisst gemeldet. Aus Aufnahmelagern, aus Heimen, aus Einrichtungen, die ihnen nach ihrer Ankunft in Europa eigentlich Schutz und Perspektive bieten sollten. Die Zahl hat der Rechercheverbund "Lost in Europe" jetzt präsentiert, zu ihm gehören neben dem britischen "Guardian" unter anderem auch der niederländische Rundfunk (VPRO) und der deutsche öffentlich-rechtliche Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb).
Schwierige Datenerhebung
Was bedeutet die Zahl - und wie kommt sie zustande? Wieso verschwinden Jugendliche, die nach ihrer Ankunft in staatliche Obhut, also beispielsweise in ein Jugendheim, kommen, von dort wieder? Wieso "hauen sie ab"? Experten sind sich sicher: Nicht alle dieser Jugendlichen sind wirklich abgetaucht, nicht allen ist etwas zugestoßen. Viele verlassen die Einrichtungen freiwillig. Und: Ihnen wurde oft nur nicht ausreichend nachgeforscht oder ihr Wiederauftauchen wurde aus verschiedenen Gründen nicht registriert.
"Ohne das Problem bagatellisieren zu wollen: Die Ursache ist auf europäischer Ebene sicher ein gewisses Datendurcheinander", sagt Martina Huxoll-von Ahn vom Deutschen Kinderschutzbund im Gespräch mit der DW. "Von Deutschland kann ich sagen: Wenn Jugendliche, die in Einrichtungen untergebracht werden, diese dann verlassen, um zum Beispiel zu Verwandten zu gehen, gibt es nicht unbedingt immer einen Abgleich mit den Ausländerbehörden." Auch verschiedene Schreibweisen des gleichen Namens führten hin und wieder dazu, dass ein aufgefundener Geflüchteter nicht wieder registriert wird.
Kinder werden Opfer von Ausbeutung
Doch leider handelt es sich nicht nur um ein Problem der Datenerhebung. In der Tat bleiben jugendliche Geflüchtete auch vermisst, weil ihnen tatsächlich etwas zugestoßen ist, sie in kriminelle Strukturen geraten oder untergetaucht sind. Diesen Anteil genau zu beziffern ist nahezu unmöglich. "Es geht vor allem um Ausbeutung der Jugendlichen. Da kommt es zu allem Schlimmen, was man sich nur vorstellen kann, wie zum Beispiel Zwangsprostitution", so Huxoll-von Ahn vom Kinderschutzbund. Gerade in großen Städten wie Berlin werden junge Geflüchtete auch als Drogenverkäufer im Rahmen von Clan-Kriminalität missbraucht.
Fakt ist: Ein unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, der in Deutschland ankommt, wird hier zunächst in staatliche Obhut genommen und bekommt einen Vormund. Das kann ein Amtsvormund sein, also beispielsweise der Mitarbeiter eines Jugendamts, der bis zu 50 jugendliche Mündel betreut. Die Alternative sind Ehrenamtliche, die eine Einzelvormundschaft übernehmen. Der Kinderschutzbund beispielsweise vermittelt diese. "Das ist von großem Vorteil, und so begreifen die Jugendlichen das auch", so Martina Hoxoll-von Ahn. So sei eine bessere Begleitung des Einzelnen gewährleistet.
Jugendliche verlassen Obhut oft aus freien Stücken
Die Bundesländer sind in Deutschland dafür verantwortlich, neu angekommene Jugendliche in die Obhut von Aufnahmestellen und Jugendeinrichtungen zu geben. Solche Aufnahmestellen für unbegleitete Geflüchtete unterhält auch die Stiftung "SozDia" aus Berlin.
Hier weiß man aber auch: Trotz bestem Bemühen möchten manche Jugendliche nicht in den Unterkünften bleiben. Zwar machen diese nur einen kleinen Teil aus. Doch warum reißen sie aus? "Viele dieser Jugendlichen kommen aus Ländern, in denen es gar keine Jugendhilfe gibt, sie kennen das gar nicht. Staatliche Organe werden schnell gleichgesetzt mit Repression und Polizei", berichtet Andreas Höll, der genau so eine Stelle leitet und tagtäglich mit unbegleiteten, minderjährigen Geflüchteten arbeitet.
"Für viele ist es aufgrund von sprachlichen und kulturellen Barrieren gar nicht so leicht nachzuvollziehen, dass wir ihnen was Gutes tun wollen. Das Gefühl bei vielen ist, sie würden überwacht", so Höll zur DW. Sprach- und Kulturmittler oder auch Pädagogen, die selbst einen Fluchthintergrund haben, werden hier eingesetzt, um Vertrauen zu schaffen und diese Probleme zu lösen.
Außerdem werden auch minderjährige Flüchtlinge in Deutschland und anderen Ländern Europas nach einem festen Schlüssel auf verschiedene Regionen verteilt. Niemand hat den Anspruch am Ende in eine bestimmten Stadt zu kommen, wenn auch auf bereits im Land lebende Verwandte Rücksicht genommen wird. "Auf der langen Flucht haben die Jugendlichen eine gewisse 'Freiheit' genossen. Sich danach wieder in eine Gruppe einfinden zu müssen, wo ihnen jemand sagt, wann sie abends zuhause zu sein haben, fällt vielen schwer", berichtet Höll.
Ein weiterer Aspekt: Viele Jugendliche verlassen Deutschland, weil sie in einem anderen Land höhere Hoffnungen auf Asyl haben. In den vergangenen Jahren seien viele - ohne sich abzumelden - nach Frankreich weitergezogen. Auch so entstehen Vermisstenmeldungen.
Wird mit zweierlei Maß gemessen?
Die Frage ist auch, wie intensiv vermissten Geflüchteten überhaupt nachgegangen wird. "Oft tauchen die Kinder irgendwo anders wieder auf, aber ob dann der Vermisstenmeldung nochmal nachgegangen wird, das ist aus meiner Erfahrung sehr unterschiedlich", berichtet Johanna Karpenstein vom "Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge". Und: Es wird womöglich mit zweierlei Maß gemessen. Wenn ein Kind aus einer gut betuchten, deutschen Familie vermisst wird, wird womöglich mit mehr Aufwand gesucht.
"Gerade, wenn ein Jugendlicher in vorläufiger Obhut abgängig ist, erstellen behördliche Stellen oft eine Vermisstenanzeige, um sich abzusichern", so Karpenstein zur DW. "Aber im Vergleich mit einem Jugendlichen, der in Deutschland sozialisiert wurde, wo Eltern oder Sorgeberechtigte auch mal nachhaken oder der Sache nachgehen, ist das hier natürlich nicht so."
Viele vermisst gemeldete geflüchtete Minderjährige wollen allerdings auch gar nicht gefunden werden. Andreas Höll berichtet aus der Praxis: "Die ändern ihre Namen, schmeißen ihre Ausweise weg." Das passiert teils auch, um einem bereits angelaufenen Asylverfahren in einem anderen Land zu entgehen.
Das Bundeskriminalamt macht auf seiner Webseite darauf aufmerksam, dass "aufgrund verschiedener Problematiken, wie beispielsweise der Mehrfacherfassungen bedingt durch unterschiedliche Schreibweisen eines Namens, fehlender Personalpapiere oder eine fehlende erkennungsdienstliche Behandlung, eine genaue Erhebung der tatsächlich vermissten unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlinge nicht möglich" sei. Die angegebenen Zahlen könnten daher lediglich als Annäherung dienen.