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Politik

Junge Grenzgänger zwischen EU und Russland

Ilya Koval Artikel | Marina Martinovic Video
23. Mai 2019

Bis Sonntag wählen Millionen EU-Bürger ein neues Europäisches Parlament - auch im estnischen Narwa, das als mehrheitlich russische Stadt bekannt ist. Was bewegt junge Menschen im estnisch-russischen Grenzgebiet?

Ein Grenzpfahl im estnischen Narwa
Ein Grenzpfahl im estnischen NarwaBild: DW/I. Koval

Russen, Europäer? Beides!

03:21

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Im estnischen Narwa ist es im Mai immer noch kühl. Am Ufer des gleichnamigen Flusses weht ein böiger Wind. Doch der 28-jährige Roman scheint nicht zu frieren. Er trägt eine leichte Khaki-Windjacke. Seine kräftige Figur, der selbstbewusste Blick, der kurz rasierte Kopf und der starke Bart lassen vermuten, dass er schon Härteres als den Frühlingswind erlebt hat. Roman arbeitet als Rettungssanitäter.

Wie in der ganzen EU wählen auch die Menschen in Narwa Ende Mai ihre Abgeordneten für das Europäische Parlament. Auch der russischsprachige Roman kann wählen, schließlich hat er einen estnischen Pass: "Ich kann mich nicht mit einem Wort selbst beschreiben. Russland ist für mich die ethnische Heimat, und Estland ist die Heimat, in der ich geboren wurde und in der ich lebe", sagt Roman. Wenige hundert Meter hinter seinem Rücken liegt die russische Stadt Iwangorod. Hier werden die EU und Russland von einer Brücke mit dem Namen "Freundschaft" verbunden.

Die Freundschafts-Brücke von Narwa nach IwangorodBild: DW/I. Koval

Russischsprachige Stadt in der EU

Roman ist einer von fast 58.000 Einwohnern von Narwa, der drittgrößten Stadt in Estland. Die überwiegende Mehrheit dort, über 80 Prozent, sind ethnische Russen. Ihre wichtigste Umgangssprache ist Russisch, auch wenn Estnisch Amtssprache ist. Fast alle Schilder und Aushänge sind zweisprachig. Weniger als vier Prozent der Einwohner sind ethnische Esten. Gleichzeitig sind 48 Prozent estnische Staatsbürger, 36 Prozent haben einen russischen Pass und etwa 14 Prozent sind sogenannte Nichtbürger, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion keine estnische Staatsbürgerschaft erhalten haben.

Als einziger in seiner Familie hat Roman einen estnischen Pass. Seine Eltern und seine jüngere Schwester leben in Narwa und haben die russische Staatsbürgerschaft. Den estnischen Pass erhielt Roman noch als Schüler in der 9. Klasse, nachdem er bei einer Prüfung Kenntnisse der Verfassung des Landes und der estnischen Sprache nachweisen konnte. "Ich dachte mir, mit einem estnischen Pass habe ich bessere Aussichten. Wenn man in Estland lebt, ist es eine Frage des Respekts, die estnische Staatsbürgerschaft zu besitzen. Eigentlich stand für mich gar nicht zur Diskussion, ob estnisch oder russisch", sagt er. Romans Frau ist ethnische Estin. Zuhause sprechen sie Estnisch, was für Roman eine gute Gelegenheit ist, die Sprache, die er auch bei der Arbeit braucht, zu üben. Denn in Narwa ist es gar nicht so einfach, Menschen zu finden, mit denen man sich auf Estnisch unterhalten kann. Mit ihren beiden Kindern sprechen die Ehepartner jeweils in ihrer eigenen Sprache, damit der Nachwuchs sowohl Russisch als auch Estnisch als Muttersprache beherrscht.

Roman ist estnischer Staatsbürger gewordenBild: DW/I. Koval

"Ich bin Russin und estnische Patriotin"

Romans Frau ist es auch zu verdanken, dass seine jüngere Schwester Anna, eine zierliche 19-Jährige mit langen braunen Haaren, gut Estnisch gelernt hat. Auch sie betrachtet Estland als ihre Heimat. Dennoch will sie ihren russischen Pass behalten. "Ich gehe oft nach Russland, dann brauche ich nicht jedes Mal ein Visum", sagt sie. Sich selbst bezeichnet sie als "Russin mit europäischer Mentalität" und als "estnische Patriotin". An einen Umzug nach Russland denkt sie nicht: "Wenn man die Grenze überquert, spürt man sofort den Unterschied zwischen unserer und jener Seite."

Auf der anderen Seite des Flusses liegt Iwangorod, eine russische Kleinstadt mit rund 10.000 Einwohnern - ein typisches russisches Provinzstädtchen mit schlechten Straßen und heruntergekommenen Häusern. Eine der wenigen gepflegten Anlagen ist die Uferpromenade und die Treppe, die zur Festung von Iwangorod führt. Anfang der 2010er Jahre gab die EU Narwa und Iwangorod im Rahmen eines Projekts zur grenzübergreifenden Zusammenarbeit rund 1,5 Millionen Euro für die Umgestaltung der jeweiligen Uferpromenaden. Bei der Festung von Narwa gibt es seitdem eine Fußgängerzone mit Bänken, Laternen und Springbrunnen, die einen Kilometer lang ist. Die Promenade auf der russischen Seite ist hingegen nur 119 Meter lang geworden. Die Einwohner führen das auf Korruption zurück. Die Behörden von Iwangorod sprechen von Geldmangel.

Anna spricht gutes EstnischBild: DW/I. Koval

Fenster nach Europa

Jewgenij hat aus seiner Wohnung in Iwangorod in einem schäbigen fünfstöckigen Gebäude einen schönen Blick auf die andere Flussseite und die Brücke zur Europäischen Union. Der 25-Jährige wurde in Iwangorod geboren. Seine Frau ist estnische Bürgerin. Gemeinsam haben sie eine kleine Tochter. Erst wollte Jewgenij Zollbeamter werden, doch er brach die Ausbildung ab: "Ich bin eine kreative Person und organisiere lieber Events", sagt er. Jewgenij wirkt noch sehr jung und seine Stimme frech. Das bunte T-Shirt und die gestylten Haare lassen vermuten, dass er sich beim Zoll wirklich gelangweilt hätte.

Jewgenij aus Iwangorod will nach Narwa umziehenBild: DW/I. Koval

Hat er schon daran gedacht, wegzuziehen? "Natürlich suche ich nach einer Gelegenheit, hier wegzukommen. Ich denke auch an Narwa und meine Frau will dorthin, aber wo soll ich da arbeiten?" In Iwangorod will er jedenfalls nicht bleiben, denn mit Arbeit sieht es dort schlecht aus. Auch fehlen Freizeitmöglichkeiten, es gibt weder ein Kino noch ein Einkaufszentrum. Das gibt es aber in der EU, also auf der anderen Flussseite.

Daher fahren die Einwohner von Iwangorod auch mehrmals die Woche in die EU, das heißt, hinüber nach Narwa. Dort können sie auch Waren kaufen, die aus der EU nicht mehr nach Russland exportiert werden dürfen. Moskau hatte das Verbot als Reaktion auf die EU-Sanktionen verhängt. Die Menschen aus Iwangorod kaufen in Narwa aber auch Kleidung, gehen dort ins Kino oder bummeln einfach nur durch die Stadt. 

Die Einwohner von Narwa fahren hingegen viel seltener über die Freundschafts-Brücke, etwa ein bis zwei Mal im Monat. In Russland können sie billiger tanken: Erlaubt ist pro Monat ein voller Tank und ein Kanister. In Iwangorod kaufen sie Waren ein, die günstiger sind als in Estland, darunter Haushaltsreiniger, Getreide, Nudeln und Zucker. Nach Angaben der estnischen Grenzbehörden werden in Narwa täglich rund 11.500 Grenzübergänge erfasst. Fast zwei Drittel davon sind russische Staatsbürger.

Für die Menschen in beiden Städten am Narwa-Fluss gibt es keine besonderen Visa-Erleichterungen. Daher kommt man ohne ein russisches Visum nicht nach Russland und umgekehrt ohne ein Schengen-Visum nicht nach Narwa. Aber die meisten Menschen haben bereits mittel- und langfristige Visa. Deswegen spüren sie nicht so deutlich, dass die Grenzregeln in Brüssel und Moskau gemacht werden. Manchmal gehen junge Russen spontan am "europäischen Ufer" spazieren und estnische Jugendliche besuchen Freunde und Verwandte auf der russischen Seite.

"In Iwangorod kann man nichts anfangen - nur zur Welt kommen, in den Kindergarten und zur Schule gehen", sagt Jewgenij traurig. Sollte ihm ein Umzug nicht gelingen, dann will er zumindest seine Tochter in eine Schule auf der estnischen Seite schicken. Den Kontrast zwischen beiden Ufern beschreibt er kurz und prägnant: "Wenn man die Grenze überquert, spürt man sofort gerade Straßen und Bürgersteige. Dort wird alles für die Menschen getan."

Narwa prägen immer noch fünfstöckige graue sowjetische Gebäude, aber die Straßen sind sauber und ordentlich. In Narwa, aber auch in Iwangorod, wird fast alles, was neu gebaut oder restauriert wird, von der EU gefördert - das zeigen auch Schilder mit der Europaflagge.

Wie die Krim das Leben in Narwa und Iwangorod veränderte

Nach der Annexion der Krim durch Russland und der militärischen Intervention im Osten der Ukraine haben sich die Beziehungen zwischen der EU und der Russischen Föderation deutlich verschlechtert. Die Menschen in Iwangorod berichten, seit 2014 werde in die Stadt öfter militärisches Gerät gebracht, und das nicht nur zu Feiertagen. Es werde so aufgestellt, damit es auch vom gegenüberliegenden Ufer noch deutlich zu sehen sei. "Es gibt aber keine Nervosität, die Menschen interessieren sich einfach für Neuigkeiten", sagt Jewgenij aus Iwangorod.

In Narwa wurden seit der Krim-Annexion keine größeren Veränderungen festgestellt, außer dass an Feiertagen und im Zusammenhang mit Manövern auch die NATO militärisch häufiger Flagge zeigt. Doch die Menschen nehmen das gelassen. Den Einwohnern zufolge hatten die Ereignisse auf der Krim für Narwa sogar positive Folgen. So widmen die estnischen Behörden der Region mehr Aufmerksamkeit und aus der Hauptstadt Tallinn wurden die Stiftung für Integration sowie die Akademie des Innenministeriums nach Narwa verlegt.

Die Festungen von Narwa (l.) und IwangorodBild: DW/I. Koval

Von der russischen Propaganda werden die jungen Menschen an beiden Ufern des Narwa-Flusses anscheinend wenig erreicht. Sie interessieren sich mehr für die lokale Agenda und weniger für die internationale. In Narwa informieren sie sich meist auf regionalen Webseiten, darunter bei der estnischen Zeitung "Postimees" und beim baltischen Portal "Delfi". Beide gibt es auch als russischsprachige Ausgabe. Die russischen Fernsehsender schauen vorwiegend ältere Menschen. Hier, an der Grenze, scheint es unter den jungen Leuten üblich zu sein, nicht über die Weltpolitik zu diskutieren. So lebt es sich ruhiger, selbst wenn am anderen Ufer wieder Panzer zu sehen sind.

Wenig zu spüren ist in dieser Region auch von den Wahlen zum Europäischen Parlament. Jewgenij aus Iwangorod hört von ihnen überhaupt zum ersten Mal. Aber auch Roman aus Narwa findet diese Wahlen nicht so interessant wie beispielsweise die Wahlen zum estnischen Parlament, die im März stattgefunden haben. Die estnischen Politiker, die ins Europäische Parlament einziehen wollen, beeilen sich auch offenbar nicht, um die Stimmen der Menschen in Narwa zu kämpfen. Rund einen Monat vor der Europawahl war in den Straßen der Stadt kein einziges Wahlplakat zu sehen.

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