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PolitikNahost

Junge Palästinenser in Gaza: Nichts wie weg - und zurück

Amjad Yaghi Gaza
15. November 2020

Viele junge Palästinenser im Gazastreifen träumen von einem besseren Leben im Ausland. Doch denen, die es schaffen, macht derzeit oft die Corona-Pandemie einen Strich durch die Rechnung, berichtet Amjad Yaghi aus Gaza.

Coronavirus | Migranten | Rückkehr nach Gaza
Bild: Mohammed Al-Hajjar/DW

Samer Habib ist niedergeschlagen. Seit August ist er zurück im Gazastreifen, jenem Ort, den er unbedingt verlassen wollte. Gut zwei Jahre vorher, im Juli 2018, war er aufgebrochen. Sein Ziel: Europa, vorzugsweise Belgien oder Deutschland.

Der Weg dorthin sollte über die Türkei führen, genauer: über Istanbul. Dort machte Habib zunächst Station, um Geld zu verdienen. "Viele Palästinenser aus dem Gazastreifen leben in der Türkei unter sehr schwierigen Bedingungen", erzählt er. "Ihre Jobs dort reichen gerade, um eine Person über Wasser zu halten. Weitere Menschen lassen sich mit diesem Lohn nicht ernähren."

Während der Corona-Pandemie verschlechterten sich die komplizierten Bedingungen für Geflüchtete und Zugewanderte dort zusätzlich, berichtet Habib. Von einem Tag auf den anderen habe er seinen Job verloren. Um nicht auf der Straße zu landen, sei er von einer Wohnung in die andere gewechselt, habe schließlich aber, wie viele seiner Landsleute, im Freien nächtigen müssen.

Die Arbeitslosigkeit habe nicht nur Palästinenser, sondern auch viele geflüchtete Syrer in der Türkei getroffen, berichtet Habib. Diesen aber sei es lange Zeit besser gegangen als den Palästinensern. "Sie hatten immerhin mit ihren Familien meist eine Wohnung ganz für sich. Wir Palästinenser hingegen teilten uns zu vielen Leuten eine Wohnung, um die Mietkosten zu senken. Trotzdem hatten wir schließlich keine Chance mehr." Um nicht zu verhungern, seien er und viele andere Palästinenser in den Gazastreifen zurückgekehrt, jedenfalls bis auf Weiteres: "Wenn die Pandemie irgendwann überwunden ist, brechen wir erneut auf."

Der Traum vom neuen Leben

Habibs Traum von einem Leben außerhalb des Gazastreifens teilen viele junge Palästinenser. Insbesondere nach dem Krieg zwischen der Hamas und Israel 2014 drängte es viele zum Aufbruch. Noch mehr wurden es, als Ägypten 2018 für einige Wochen den Grenzübergang Rafah öffnete. Dieser war zuvor erstmals 2015 nach langer Zeit geöffnet worden. Auch die Zusammenstöße mit dem israelischen Militär während der Demonstrationen an der Grenze zu Israel im März jenes Jahres war für viele junge Palästinenser ein Anlass, die Auswanderung zu wagen.

Nach der Rückkehr die Formalitäten: Migranten kehren in den Gazastreifen zurückBild: Mohammed Al-Hajjar/DW

Wie viele junge Menschen den Gaza-Streifen verlassen haben, lässt sich mit Sicherheit nicht sagen. Mitte Mai vergangenen Jahres sprach die offizielle israelische Rundfunkgesellschaft "Kan" in einer Reportage von rund 40.000 Auswanderern. Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge sind gut 20.000 Palästinenser ins Ausland aufgebrochen. Menschenrechtsexperten aus Gaza erklärten derweil, zwischen 2014 und Anfang 2020 hätten sich insgesamt rund 70.000 junge Menschen ins Ausland begeben.

Zwischenstopp Türkei

Für viele Palästinenser sei die Türkei eine wichtige Anlaufstation auf der Suche nach Arbeit, sagt Saeed Awad. Er selbst habe sich dort zehn Jahre lang mit den unterschiedlichsten Jobs durchgeschlagen, berichtet der 36-jährige. Insgesamt sechs Jahre war er in dem wirtschaftlich angeschlagenen Gazastreifen arbeitslos. Anfang April 2019 reiste er in die Türkei aus. Dort arbeitete er ein Jahr lang in einem Stromversorgungsunternehmen, wurde aufgrund der Pandemie dann aber entlassen. Ohne Alternativen vor Augen, kehrte auch er nach Gaza zurück.

"Die Türkei ist ein schönes Land" fasst Awad seine Eindrücke zusammen. "Aber sie ist nicht reich und verfügt über keinerlei Mittel, Einwanderer aufzunehmen." Allerdings seien Einwanderer als billige Arbeitskräfte dort durchaus gesucht. "Darin unterscheidet sich die Türkei von den europäischen Ländern, die Flüchtlingen Programme anbieten, mit deren Hilfe sie sich integrieren und qualifizieren können. Ich selbst habe ebenfalls darüber nachgedacht, nach Europa zu reisen. Aber das ist illegal und außerdem lebensgefährlich."

Getroffen vom Virus. Szene aus IstanbulBild: picture-alliance/dpa/O. Orsal

 "Ich wollte mein Leben ändern"

 Auf ganz andere Weise musste Ahmed al-Masry vorgehen. Vor zwei Jahren war er bei einem Protestmarsch an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel von einem israelischen Militärgeschoss am rechten Bein verletzt worden. Ein Knochen brach, die Sehnen wurden durchtrennt. Da im Gaza-Streifen keine Aussicht auf Behandlung bestand, entschloss er sich, seine Heimat zu verlassen. Eigentlich hatte auch er über die Türkei nach Europa reisen wollen. Wegen seiner Verletzung sah er sich aber zunächst gezwungen, zur Behandlung nach Ägypten zu reisen. Der Aufenthalt dort zog sich über ein Jahr hin. Dann kam die Corona-Krise, an eine Überfahrt nach Europa war nicht mehr zu denken. Auch al-Masry kehrte nach Gaza zurück.

"Ich wollte mein Leben ändern", sagt al-Masry. "In Gaza habe ich eine ganze Menge Berufe ausgeübt, aber letztlich mündeten sie alle in die Arbeitslosigkeit. Darum war es sehr hart, in den Gazastreifen zurückkehren zu müssen."

Kurzes Glück in den VAE

Auch Mahmoud Ghanem hatte kein Glück. Anfang dieses Jahres war er in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) aufgebrochen worden und hatte dort auch eine Arbeit gefunden. Doch wie in vielen Ländern der Golfhalbinsel entwickelte sich das Virus auch in den VAE zum Jobkiller. Als erstes traf es die Migranten - nicht nur Palästinenser, sondern auch viele Syrer, Libanesen, Filipinos oder Inder.

Sieben Jahre ist es her, dass Ghanem in Gaza seinen Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht hatte. Seitdem befand er sich auf ständiger Arbeitssuche. Eine Zeit lang führte er ein Lebensmittelgeschäft in der Nähe seines Hauses, das dann aber pleite ging.

Das Schlimmste verhindern: Eine Künstlerin weist in Gaza auf Schutzmöglichkeiten gegen Corona hinBild: Mahmoud Ajjour/ZumaPress/Imago Images

Ausweglose Situation

"Ich arbeite, um ich selbst sein zu können", sagt Ghanem. "Die Jugend im Gazastreifen befinden sich in einer ausweglosen Situation. Junge Leute haben hier nur die Wahl, auszuwandern - oder sich jenen politischen Organisationen anzuschließen, die uns zerstört haben."

An die VAE denkt er gerne zurück. "Dort kann man ein würdiges und befriedigendes Leben führen. Man findet seinen Frieden. Es gibt auch keine Stromausfälle. Alles ist ganz anders als hier in Gaza, wo es die immer gleichen Probleme mit Strom, Wasser, der Politik, Bombenangriffen und dergleichen gibt."

Zwar ist auch Ghanem frustriert. Doch auch er will absehbar wieder aufbrechen. Jeder Ort, sagt er, sei zum Leben besser als der Gazastreifen. Dort fehle es an allem, was es zum Leben braucht.

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