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Politik

Justizreform in der Türkei eine Farce?

Hilal Köylü
8. Oktober 2019

Die türkische Regierung möchte mit einem Gesetzespaket die Justiz reformieren - Rechte von Journalisten und Angeklagten sollen deutlich gestärkt werden. Doch Kritiker halten den Plan für Augenwischerei.

Das türkische Parlament in Ankara
Bild: picture-alliance/dpa/B. Ozbilici

Nach dem Putschversuch am 15. Juli 2016 wurde in der Türkei die Pressefreiheit stark eingeschränkt: Hunderten kritischen Journalisten wurde der Prozess gemacht; die meisten erhielten rigorose Haftstrafen. Nun soll die Justiz reformiert werden, mit dem Ziel, dass nach jahrelangem Ausnahmezustand und Massenverhaftungen wieder Rechtsstaatlichkeit einkehrt. Ein umfangreiches Reformpaket soll in den kommenden Wochen im türkischen Parlament debattiert werden.

Das Paket schlägt Änderungen an 15 Gesetzen vor, unter anderem an Straf- und Antiterrorgesetzen. Es soll die Meinungsfreiheit stärken, Prozesse gerechter machen und die Unabhängigkeit der Justiz stärken. Bei einigen strafrechtlichen Urteilen von weniger als fünf Jahren soll es bald die Möglichkeit geben, beim Obersten Gerichtshof in Berufung zu gehen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan betont, dass das Paket Rechte und Freiheiten der Bürger stärken würde.

Die regierungskritische Zeitung "Sözcü" erschien am 20. Mai 2017 mit leeren Seiten. Die "Spezialausgabe zur Pressefreiheit" war eine Reaktion auf die Festnahme von mehreren Mitarbeitern. Bild: picture alliance/AP Images

"Kriminalisierung von Gedanken"

Auch der berüchtigte Artikel 7 des Antiterrorgesetzes soll geändert werden - das Gesetz stellt "Terrorpropaganda" unter Strafe und wurde besonders häufig zur Verurteilung von Journalisten herangezogen. Kritiker sind dennoch skeptisch: Das Paket sei weit von ihren Erwartungen entfernt, heißt es häufig. Türkische Journalisten finden zudem, dass die "Kriminalisierung von Gedanken" mit dem Gesetzespaket nicht gestoppt werde. Oppositionsparteien argumentieren, das Gesetzesvorhaben werde nicht verhindern, dass Journalisten wegen ihrer beruflichen Tätigkeit inhaftiert oder verurteilt werden.

Ömer Faruk Eminagaoglu von der Juristen-Gewerkschaft YARSAV stellt fest: "Meinungsäußerungen und Kritik sind kein Verbrechen - so wird es in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie in der türkischen Verfassung festgelegt." Für Eminagaoglu habe die türkische Regierung mit dem Reformpaket praktisch zugegeben, dass Journalisten lange Zeit unrechtmäßig bestraft worden seien. "Doch das Paket gibt den Journalisten nicht die nötigen Freiheiten. Diese kleinen Zugeständnisse ebnen nicht den Weg in Richtung Meinungsfreiheit", erklärt der ehemalige Staatsanwalt.

Gesetzespaket nicht ausreichend?

Die größte Oppositionspartei CHP schließt sich der Kritik an. So sagte der CHP-Politiker Engin Özkoc der DW: "Man müsste im Parlament an einem besseren Paket arbeiten. Es wird im jetzigen Zustand nicht die Erwartungen erfüllen." Die vielen inhaftierten Journalisten würden durch das Justizreformpaket nicht wieder aus den Gefängnissen entlassen werden, kritisiert der CHP-Politiker Baris Yarkadas: "'Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung', 'Terrorpropaganda', 'Präsidentenbeleidigung' oder 'Verunglimpfung der türkischen Republik'; die Anwendung dieser Gesetze sind für die türkische Justiz zur unverzichtbaren Gewohnheit geworden." Yarkadas berichtet, dass nach seinen Recherchen allein im letzten Monat zehn Journalisten Gefängnisstrafen von 29 Jahren erhalten hätten.

Bild: picture-alliance/dpa/S. Suna

Der ehemalige Vorsitzende der Istanbuler Anwaltskammer Turgut Kazan erinnert daran, dass Meinungsfreiheit auch in türkischen Gesetzen festgelegt seien: nämliche in den Artikeln 285 und 301 des Strafgesetzbuches. "Meinungsfreiheit wurde immer als terroristisches Verbrechen angesehen. Und nun soll Kritik und Berichterstattung plötzlich kein Verbrechen mehr sein?" Dieses Gesetzespaket sei ein Versuch, das Image der Türkei in Europa ein wenig aufzupolieren. "Das Paket ist reiner Unsinn", so Kazan.

Anhänger erhoffen sich Demirtas' Freilassung

Viele in der Türkei erhoffen sich, dass der im Jahr 2016 inhaftierte ehemalige Co-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP Selahattin Demirtas nach der Justizreform wieder frei gelassen wird - seine Inhaftierung wegen "Terrorpropaganda" wird von seinen Anhängern als unrechtsmäßig angesehen. Kazan empfindet solche Erwartungen als illusorisch. "Demirtas ist ein Symbol dafür, dass der Rechtsstaat nicht existiert. Eine Freilassung wäre nur dann denkbar, wenn das in einen Spielzug der Regierung passt."

Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen sind 134 Journalisten in türkischen Gefängnissen inhaftiert - das Land gilt als das größte Gefängnis der Welt für Journalisten. Die zivilgesellschaftliche Organisation fordert, dass die Debatte um die Justizreformen transparenter und öffentlich geführt wird. Die Vertreter der Regierungspartei AKP reagierten gelassen auf ihre Kritiker: Man wolle alle Kritikpunkte im türkischen Parlament diskutieren und auswerten, hieß es von der Parteiführung.

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