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Politik

"Die Verlierer des Referendums lehnen sich auf"

18. April 2017

20 Jahre lang war er als Türkei-Korrespondent tätig: Der Journalist Gunnar Köhne spricht im Interview mit der DW über die Protestwelle in der Türkei und über die neue türkische Außenpolitik.

Türkei Referendum - Proteste
Bild: picture alliance/AP Photo/E. Gurel

Deutsche Welle: Viele westliche Kommentatoren meinen, der Sieg von Präsident Erdogan beim Referendum sei sehr knapp und sein Zustandekommen sehr fragwürdig. Am Montagabend gab es in verschiedenen türkischen Städten Proteste. Wie ist zurzeit die Atmosphäre in der Türkei?

Gunnar Köhne: Mein Eindruck ist, dass hier verkehrte Welten herrschen. Die Siegerseite wirkt eher konsterniert. Es gab zwar kleinere Jubelfeiern vor dem Hauptquartier der AKP in Ankara und vor dem Palast des Staatspräsidenten, aber auf der Straße ist es ziemlich ruhig, während die Verlierer ihrerseits sich ermutigt fühlen, abends auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Sie fühlen sich als die Sieger bei diesem Referendum und sehen sich um ihren Wahlsieg betrogen. Sie fordern auch eine Neuauszählung.

Präsident Erdogan sieht hinter den Protesten Gezi-Aktivisten beziehungsweise  Gezi-Organisationen. Steckt hinter diesen Aktionen tatsächlich die Gezi-Bewegung? Welche Gruppen und Schichten der Gesellschaft protestieren?

Die Gezi-Bewegung gibt es ja so nicht mehr. Das ist nun auch schon vier Jahre her. Aber tatsächlich gab es gestern Demonstrationszüge etwa von Besiktas nahe Taksim, aber auch Demonstrationen auf der anderen Seite des Bosporus, in Kadiköy. Da waren sicher auch viele darunter, die auch bei den Gezi-Protesten dabei waren. Aber das waren ganz unterschiedliche Menschen, die einfach wütend waren darüber, dass es offenbar zu kleineren oder größeren Betrügereien bei dieser Wahl gekommen ist. Das waren keine Massendemonstrationen, jedenfalls noch nicht. Ich glaube, dass die Regierung und der Staatspräsident mit solchen Bemerkungen davon ablenken wollen, dass es wirklich so ist, dass 50 Prozent der Bevölkerung diese Verfassungsänderung abgelehnt haben, und dass es für die Regierung und für Erdogan schwer ist, auf Dauer gegen 50 Prozent der Bevölkerung, also gegen die Hälfte zu regieren, und einfach so zu tun als gäbe es sie nicht.

Gunnar Köhne: Erdogan wird an dem Ergebnis festhalten

Halten Sie es für möglich, dass das Ergebnis des Referendums im Laufe der Protestbewegung korrigiert oder annulliert wird?

Nein, das sehe ich nicht. Ich glaube, dass die Regierung jetzt an diesem Wahlsieg festhalten wird. Die Hohe Wahlkommission ist ja von Erdogan handverlesen, das sind Leute, die von der Regierung neu eingesetzt worden sind. Die werden ganz sicher die Wahl nicht annullieren und eine Neuauszählung ansetzen. Das halte ich für ausgeschlossen. Dieses Ergebnis bleibt erst einmal. Aber es ist schwierig genug für die Regierung und für den Staatspräsidenten, einfach so durchzusetzen, was sie durchsetzen wollen. Ich kann mir vorstellen, dass es in den nächsten Monaten Parteineugründungen oder vielleicht Absetzbewegungen innerhalb der AKP geben wird. Es werden unruhige Zeiten auf die Türkei zukommen, das halte ich für sehr wahrscheinlich. Bis zu den geplanten Wahlen im Jahr 2019 wird die Türkei in einem Krisenmodus stecken bleiben, auch wenn man sich zum Beispiel die Wirtschaft oder die außenpolitische Situation anschaut.

Nachdem über 60 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland ihr "Ja" Erdogan gegeben haben, gibt es lautstarke Forderungen, die doppelte Staatsangehörigkeit rückgängig zu machen und die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufkündigen. Wohin steuert die Türkei außenpolitisch?

Außenpolitisch steht die Türkei total isoliert da. Weder hat sich das Verhältnis zu den USA unter Donald Trump verbessert, noch hat sich der Wunsch von Erdogan erfüllt, mit Russland eine neue Allianz einzugehen. Russland blockiert die Wünsche der Türkei in Syrien, macht genau das Gegenteil dessen, was sich die Türkei dort erhofft. Und das Handelsembargo Russlands gegen die Türkei besteht weitestgehend weiter. Türkische Tomaten dürfen immer noch nicht nach Russland geliefert werden. Umgekehrt hat die Türkei angekündigt, keinen russischen Weizen mehr zu importieren. Das heißt, die beiden Länder stehen wieder kurz vor einem Handelskrieg. Und wie ist es um die europäisch-türkischen Beziehungen steht, sieht man ja. Dass sich Erdogan nach dem Referendum mäßigen und auf die Europäer wieder zugehen würde, nachdem im Laufe des Wahlkampfs böse Worte gefallen sind, diese Hoffnung hat sich noch nicht erfüllt. Er haut weiterhin nicht nur auf seine Gegner ein, sondern auch auf die Europäer. Er beschuldigt sie, weiterhin einen Kreuzzug gegen die Türkei zu führen. Er hat auch angekündigt, noch einmal das Thema Todesstrafe auf die Tagesordnung zu setzen, obwohl er weiß, dass eine Einführung der Todesstrafe die EU-Annäherung oder den EU-Beitrittsprozess sofort abrupt beenden würde. So ist die außenpolitische Situation, und das in wirtschaftlich schwierigen Zeiten, in denen die Türkei mehr denn je auf Europa angewiesen ist. Da sehe ich eben schwarz für die nächste Zeit. Es wird keine Verbesserung der europäisch-türkischen Beziehungen geben.

Gunnar Köhne ist ein deutscher Journalist. Er war 20 Jahre lang Türkei-Korrespondent der DW. In den zwei Jahrzehnten berichtete er vom Bosporus und aus der gesamten Türkei. Ende 2016 kehrte er nach Deutschland zurück.

Das Gespräch führe Çelik Akpinar

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