Drei Freisprüche und eine Bewährungsstrafe
12. Oktober 2018Im Strafprozess um den verheerenden Einsturz des Kölner Stadtarchivs sind drei von vier Angeklagten freigesprochen worden. Lediglich ein Bauüberwacher der Kölner Verkehrsbetriebe (KVB) wurde vom Kölner Landgericht zu einer achtmonatigen Bewährungsstrafe wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Wegen des verheerenden Unglücks bei U-Bahnbauarbeiten vor knapp zehn Jahren hatten sich die Angeklagten seit Januar vor Gericht verantworten müssen.
Richter Michael Greve sagte bei der Urteilsverkündung, den drei Freigesprochenen habe "kein Pflichtverstoß" nachgewiesen werden können. Alleinige Ursache des Unglücks sei eine Fehlstelle in einer Schlitzwand beim U-Bahnbau gewesen. "Wir sind uns sicher, dass niemand diese Folgen wollte", sagte Greve. Die Kammer sei sich bewusst, dass das Urteil "möglicherweise ein gewisses Unverständnis" in der Öffentlichkeit hervorrufen werde. Dies sei aber "nicht der Maßstab unserer Entscheidung".
Zwei Menschen starben beim Einsturz des Kölner Stadtarchivs
Das Unglück dauerte nur wenige Augenblicke: Am 3. März 2009 um 13.58 Uhr fällt das Historische Archiv der Stadt Köln, das größte Kommunalarchiv Deutschlands, wie ein Kartenhaus in sich zusammen und versinkt in der Baugrube der geplanten U-Bahn-Haltestelle am Waidmarkt. Ein Auszubildender und ein Design-Student, die in Nachbarhäusern wohnen, werden mit in die Tiefe gerissen und unter den tonnenschweren Trümmern begraben. Der Lehrling, so wird es ein Rechtsmediziner später schildern, ist sofort tot. Der Student lebt möglicherweise noch tagelang unter dem Schuttberg weiter, kann aber nicht mehr rechtzeitig gefunden werden. 36 Anwohner verlieren ihre Wohnungen, 180 Menschen müssen unmittelbar nach dem Einsturz und noch lange darüber hinaus psychologisch betreut werden.
Mit den beiden Todesopfern, deren Leichen erst Tage nach der Katastrophe geborgen werden können, werden rund 90 Prozent des Archivguts verschüttet: Über 1000 Jahre Kölner, rheinische und überregionale Geschichte in Form von Urkunden, Karten, Handschriften, Plänen, Fotos, Filmrollen - weit mehr als das "Gedächtnis der Stadt". Das einzige Glück im Unglück an diesem Schicksalstag: Die Mitarbeiter und Nutzer des Archivs können das Gebäude laut Augenzeugenberichten durch Warnrufe von Bauarbeitern und verdächtige Geräusche gerade noch rechtzeitig verlassen.
Staatsanwaltschaft: Einsturz hätte verhindert werden können
Nach Einschätzung der Staatsanwaltschaft hätte der Einsturz des Archivs eindeutig verhindert werden können. Laut Anklage hatten Arbeiter 2005 beim Ausbau der Nord-Süd-Linie der Kölner U-Bahn um ein tiefliegendes Hindernis herumgebaggert, anstatt es zu melden, wodurch ein Loch in einer Betonwand entstanden sei. Durch diese Fehlstelle seien später tausende Kubikmeter Erde, Kies und Wasser in die Baugrube eingedrungen, die dem Stadtarchiv den stabilen Grund entzogen hätten.
Den Angeklagten warf Oberstaatsanwalt Torsten Elschenbroich vor, die Bauarbeiten nicht wie vorgeschrieben überprüft, dokumentiert und kommuniziert zu haben. Damit hätten sie bei ihrer Arbeit "gegen die einfachsten und grundlegendsten Regeln verstoßen", so Elschenbroich in seinem Plädoyer. Auch der Hauptgutachter hatte ein Loch in der unterirdischen Wand als Ursache benannt. Die Verteidigung hatte dagegen die Ansicht vertreten, dass die Ursache für das Unglück nicht abschließend geklärt sei und auch ein sogenannter "hydraulischer Grundbruch" - eine plötzliche Bodenbewegung durch einströmendes Grundwasser - zum Einsturz geführt haben könnte.
Wettlauf gegen die Zeit
Mit dem Urteil kommt das Kölner Landgericht der absoluten Verjährung der Straftaten zuvor. Diese wäre im März 2019 eingetreten, weshalb die juristische Aufarbeitung unter Zeitdruck stand - schwierige Voraussetzungen für ein Verfahren, dessen Akteninhalt nach Angaben des Gerichts "ca. 11.000 Blatt Hauptakten plus etwa 40 Leitz-Ordner Beiakten" umfasste. Allein die Anklageschrift war 196 Seiten lang.
Dass Strafprozesse mitunter so kurz vor der Verjährungsfrist beginnen, wie es etwa auch beim Verfahren zum Unglück bei der Duisburger Love Parade 2010 der Fall ist, sieht Frauke Rostalski kritisch. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für Strafprozessrecht an der Universität Köln. Wenn das Gericht unter dem Druck stehe, den Prozess zügig zu führen, könne das etwa "zu Lasten der Beweisarbeit gehen". Auf der anderen Seite könne ein später Prozessbeginn dafür sprechen, "dass die Anklage es sich nicht leicht gemacht hat, dass sie versucht hat, es wirklich wasserdicht zu machen. Es gibt nichts Peinlicheres, als wenn frühzeitig angeklagt wird und am Ende nichts herauskommt, weil im Vorfeld nicht genug ermittelt wurde", so Rostalski.
Komplizierte Suche nach Antworten
Tatsächlich führte vor allem die aufwendige Ursachenforschung und Beweissicherung dazu, dass zwischen dem Archiveinsturz und dem Urteil mehr als neun Jahre liegen - auch wenn der eine oder andere Internetnutzer den sogenannten "Kölschen Klüngel" dahinter vermutet. Der Verdacht, dass bei den U-Bahn-Bauarbeiten möglicherweise gepfuscht wurde, stand schon früh im Raum, die Staatsanwaltschaft nahm kurz nach dem Unglück Ermittlungen gegen Unbekannt auf. Aber allein die Bergung der verschütteten und teils schwer beschädigten Archivstücke, für die unter schwierigen Bedingungen erst eine "Bergungsbaugrube" innerhalb des Einsturztrichters geschaffen werden musste, dauerte zweieinhalb Jahre.
Danach konnte auch die Fehlstelle in der U-Bahn-Wand nicht ohne weiteres begutachtet werden. In einem eigens dafür gebauten Besichtigungsschacht trugen Spezialtaucher nach und nach das Erdreich ab, um an der Wand Untersuchungen durchführen zu können. Auch dass das bei Firmendurchsuchungen sichergestellte Material eine Datenmenge von 7,5 Terabyte - so viel wie 350 Millionen DIN-A-4-Seiten - umfasste, trug nicht gerade zur Beschleunigung der Ermittlungen bei. Auch wenn die Staatsanwaltschaft zur Sichtung laut Medienberichten eine Spezialsoftware einsetzte, die unter anderem auch das FBI benutzt.
Klärung der Schuldfrage bei Katastrophen schwierig
Ähnlich herausfordernd stellte sich die Klärung der Schuldfrage vor Gericht dar. Die kann gerade bei Katastrophen wie dem Archiveinsturz, der Love Parade oder dem ICE-Unfall von Eschede 1998 hochkomplex sein. "Bei Großereignissen oder auch bei Bauprojekten, die eine längere Planung voraussetzen, ist es immer ein Problem, dass es sich um arbeitsteilige Prozesse handelt", erklärt Rostalski. "Viele verschiedene Personen sind daran beteiligt, es ist oft schwierig, genau auszumachen, wer für welche Abläufe zuständig war und wer welche Entscheidung getroffen hat." Die Arbeitsteilung mache es zudem manchmal schwierig, Kausalitäten nachzuweisen.
2014 richtete die Staatsanwaltschaft ihre Ermittlungen erstmals gegen konkrete Verdächtige, um die drohende Verjährung fünf Jahre nach dem Einsturz zu verhindern: 90 Personen, die an dem Bau der U-Bahn-Grube beteiligt waren, gerieten ins Visier. Schließlich wurde der Kreis auf sieben Personen eingegrenzt. Zum Prozessbeginn in diesem Januar saßen nur noch fünf Menschen auf der Anklagebank: Ein Angeklagter war in der Zwischenzeit verstorben, ein weiterer schwer erkrankt. Anfang Juli wurde das Verfahren gegen einen weiteren Angeklagten abgetrennt - ebenfalls wegen einer schweren Krankheit. Bei der Person handelt es sich um einen Polier, der laut der Staatsanwaltschaft maßgeblich am Baupfusch mitgewirkt haben soll.
1,2 Milliarden Euro Schaden
Dass es manch einen frustrieren mag, wie lange die bisherige Suche nach Antworten in Köln gedauert hat, ist für Rechtswissenschaftlerin Rostalski "emotional sehr nachvollziehbar". Aus juristischer Sicht diene ein Strafverfahren aber nicht dazu, "subjektive Gerechtigkeitserwartungen der Öffentlichkeit und der Angehörigen zu erfüllen. Es hat die Funktion, zu klären, ob die Voraussetzungen dafür, dass wir als Gesellschaft jemanden bestrafen dürfen, erfüllt sind oder nicht. Wenn wir sagen: 'Wir wollen nicht so ein langwieriges Verfahren, wir wollen weniger Anforderungen', dann würde das immer auf Kosten der Rechtsstaatlichkeit gehen". Gleichzeitig könne der Strafprozess nur bedingt der Aufklärung dienen - nämlich "nur in Hinblick auf die Tat, die angeklagt ist."
Mit dem Urteil ist das Kapitel um den Archiveinsturz allerdings lange nicht abgeschlossen. Seit August läuft ein zweiter Strafprozess gegen einen ehemaligen Oberbauleiter, der im ersten Prozess schwer belastet wurde. Wer für den Schaden, den die Stadt Köln auf 1,2 Milliarden Euro beziffert, aufkommen muss, wird in einem Zivilprozess geklärt werden müssen. Dieser wird unter weniger Zeitdruck stehen als die beiden Strafprozesse: Ein möglicher Schadensersatz-Anspruch verjährt erst nach 30 Jahren.
Mindestens so lange wird es nach Angaben der Stadt Köln auch dauern, bis das beschädigte Archivgut wieder vollständig restauriert ist. Das derzeit im Bau befindliche neue Stadtarchiv am Kölner Eifelwall wird dann schon längst in Betrieb sein.