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Kafala-System im Libanon: Moderne Sklaverei

Diana Hodali Beirut
25. Dezember 2025

Im Libanon arbeiten zehntausende migrantische Hausangestellte unter dem Kafala-System ohne wirksamen Schutz. Menschenrechtsorganisationen sprechen von moderner Sklaverei.

Ehemalige Hausangestellte aus Sierra Leone im Libanon
Etwa 150.000 Arbeitsmigrantinnen sollen derzeit im Libanon leben, schätzt die Organisation KafaBild: Aline Deschamps/Middle East Images/AFP via Getty Images

Sharon ist 21, als sie am 24. April 2024 aus Kamerun im Libanon landet. Sie hat ein Ziel: arbeiten, Geld verdienen, ihre Familie unterstützen. Eine Vermittlungsagentur hatte alles arrangiert. Doch in einem Video sagt sie später nur diesen Satz, der alles zusammenzieht: "Ich arbeitete in einer toxischen Familie." Kein Lohn, kein verlässlicher Vertrag, kein Schutz - und immer das Gefühl, dass ihr niemand helfen kann.

Ihr erster Arbeitgeber lässt sie einen Tag arbeiten - ohne Bezahlung. Die zweite Familie beschäftigt sie zwei Wochen, zahlt aber lediglich 60 US-Dollar an das Vermittlungsbüro; Sharon sieht davon nichts. Im dritten Haushalt wird die Ausbeutung zum System:

Ab Mai 2024 putzt sie nicht nur die Wohnung, sondern zusätzlich zwei Geschäftsräume ihrer Arbeitgeber. Acht Monate lang erhält sie keinen Lohn. Ihr vereinbartes Gehalt: 200 US-Dollar. Global betrachtet wenig, für Sharon existenziell. Doch die Arbeitgeber erklären, sie hätten 2000 US-Dollar an eine Agentur gezahlt, um sie "zu holen" - als würde dieser Betrag ihr Recht auf Bezahlung aufheben.

Arbeit unter Kontrolle

Während Sharon weiterarbeitet, kippt ihr Körper. Sie berichtet von Brustschmerzen und häufigem Nasenbluten. Essen wird zum Druckmittel: Als sie sagt, sie wolle nicht weiterarbeiten, sollen Mahlzeiten verweigert worden sein.

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02:39

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Erst als sie Kontakt zu This Is Lebanon aufnimmt, beginnt sich etwas zu bewegen. Die gemeinnützige Organisation setzt sich seit 2017 für die Rechte von Arbeitsmigrantinnen ein - und scheut sich nicht, deren "Bürgen" öffentlich zu machen, wenn sonst nichts wirkt. Der Organisation gelingt es, zumindest einen Teil des Geldes zurückzuholen. Doch, sagt This Is Lebanon, es brauche strukturelle Reformen und echte Rechenschaftspflicht.

Was Sharon erlebt, ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Systems. Kafala ist das arabische Wort für Bürgschaft und das Kafala-System bindet die Migranten an ihre Bürgen. Das Kafala-System macht Migrantinnen rechtlich von ihren Arbeitgebern abhängig. Betroffen sind vor allem Frauen aus afrikanischen und asiatischen Ländern, die in Privathaushalten arbeiten. Hausangestellte sind vom Arbeitsrecht ausgeschlossen, grundlegender arbeitsrechtlicher Schutz fehlt und die Bürgen nehmen ihnen meist den Reisepass weg. Das Kafala-System verlagert damit Macht vollständig auf die Seite der Bürgen - und schafft Bedingungen, in denen Ausbeutung bis hin zu Gewalt vorkommen.

Selbstorganisation statt staatlicher Schutz

Melissa Kouame N'Guessan Epiphanie von der Gewerkschaft "UNION fait la force" beschreibt diese Realität mit einer Direktheit, die aus Erfahrung kommt, denn sie selbst ist vor einigen Jahren aus der Elfenbeinküste in den Libanon gekommen: "Das Kafala-System hat massive negative Auswirkungen auf migrantische Frauen. Viele von ihnen erleben die Beschlagnahmung ihrer Pässe, ausbleibende oder nicht ausgezahlte Löhne und den vollständigen Verlust ihrer Freiheit."

Ihre Gewerkschaft wurde im August 2023 gegründet, heute gehören der Vereinigung 30 Frauen aus mehreren Ländern an. "Gemeinsam haben wir bereits viel erreicht", sagt Kouame N'Guessan Epiphanie. Hilfe bei Gewalt, für Kinder, Kranke, Obdachlose. Und sie beschreibt, wie Hilfe oft funktioniert: nicht über Behörden, sondern über Netzwerke. Wenn eine Frau in Gefahr ist, werde zuerst ihre Community informiert; dann mobilisieren sich Menschen und alarmieren das Gewerkschaftsnetzwerk, das Hilfe organisiert. Neben internationalen und libanesischen Initiativen spielt auch die Organisation Egna Legna Besidet eine zentrale Rolle. Sie unterstützt vor allem Frauen aus afrikanischen Ländern, insbesondere aus Äthiopien, die im Libanon misshandelt oder missbraucht werden.

Die Organisation Kafa unterstützt Arbeitsmigrantinnen auf mehreren Ebenen: Neben Direkthilfe versucht sie auch, auf die Politik einzuwirken Bild: Diana Hodali/DW

Die rechtliche Realität

Die juristische Perspektive liefert Mohana Ishak, Juristin bei Kafa. Kafa, gegründet 2005, ist eine Frauenrechtsorganisation, die früh zu häuslicher Gewalt gearbeitet hat und seit 2010 das Thema migrantischer Hausangestellter verstärkt verfolgt. Ishak beschreibt das Grundprinzip: Ein Kafil, also der Bürge, zahlt Geld, um eine Hausangestellte "zu holen" - und daraus leitet er offenbar einen Besitzanspruch ab. Je nach Herkunft werde mehr oder weniger gezahlt; Englischkenntnisse, Ausbildung - und Rassismus spielten mit hinein. Die Frauen dürfen in der Regel nur bei dem Bürgen leben, oft ohne eigenes Zimmer; manche schlafen in der Küche oder auf dem Balkon. Manche werden sogar in andere Haushalte der Familie mitgenommen oder in Firmen eingesetzt - in der Regel ohne Extra-Bezahlung, so wie Sharon.

Wer geht, riskiert Kriminalisierung. Wenn jemand den Bürgen verlässt, kann er festgenommen werden. Es drohen Anzeigen wegen "Vertragsbruch". Ishaks Fazit ist unmissverständlich: "Das, was hier im Libanon stattfindet, ist moderne Sklaverei."

Ein System mit wirtschaftlichem Interesse

Zwar existiert eine Hotline des Arbeitsministeriums für migrantische Hausangestellte, doch laut This Is Lebanon und Kafa bleibt sie in der Praxis wirkungslos. Beschwerden verlaufen oft im Nichts - ein formales Angebot ohne Konsequenzen. Noch ist nicht abzusehen, ob die neue Regierung sich des Themas ernsthaft annimmt.

Trotz jahrelanger Kampagnen von Migrantinnenorganisationen und Menschenrechtsgruppen wurde das Kafala-System bislang nicht abgeschafft. Ein zentraler Grund ist seine wirtschaftliche Bedeutung: Allein Vermittlungsagenturen, die wiederholt mit Vorwürfen von Ausbeutung, Zwangsarbeit und Menschenhandel konfrontiert sind, erwirtschaften rund 57,5 Millionen US-Dollar pro Jahr. 2022 blockierten sie erfolgreich einen einheitlichen Standardarbeitsvertrag für migrantische Hausangestellte. Das oberste Verwaltungsgericht erklärte, der Vertrag schade den Interessen der Agenturen - eine Prüfung menschenrechtlicher Verpflichtungen blieb aus.

Hilfe und politischer Druck

Kafa arbeitet daher auf zwei Ebenen: direkte Hilfe für Betroffene und Lobbyarbeit bei der Politik. Es geht um Schutz, Unterbringung, rechtliche Unterstützung - und zugleich um politischen Druck, um Sprache, Standards, Verantwortlichkeiten. Doch Ishak beschreibt auch den Stillstand: Es fehle weiterhin an Problembewusstsein, und viele Bürgen sähen sich selbst als die Benachteiligten und verlangten Dankbarkeit von den Frauen.

Mohana Ishak ist Juristin bei Kafa Bild: Diana Hodali/DW

Und obwohl der Staat Diskriminierung verbietet, gibt es bis Schwimmbäder, in denen Hausangestellte aus rassistischen Gründen nicht ins Wasser dürfen oder gar nicht erst hineinkommen - Ishak hat solche Schwimmverbote schon mit eigenen Augen mitbekommen. Was sie erzählt, passt zu dem, was man im Alltag sehen kann: oft sitzen die migrantischen Hausangestellten in Restaurants an getrennten Tischen.

Zahlen, die ein System beschreiben

Auch die Dimension ist groß. Kafa schätzt, dass es vor der Corona-Pandemie rund 250.000 Migrant Domestic Worker im Libanon gab. Nach der Pandemie sei die Zahl auf etwa 60.000 gefallen - inzwischen wieder gestiegen auf ungefähr 150.000. Hinter diesen Zahlen stehen Lebensläufe wie der von Sharon.

Im Februar 2025 gelingt es Sharon, nach Kamerun zurückzugehen. Sie verlässt den Libanon. Nur 300 US-Dollar können zunächst vom Vermittler zurückgeholt werden, Arbeitgeber und Agenten schieben sich die Verantwortung zu. Erst als This Is Lebanon kurz davor ist, den Fall öffentlich zu machen, erklärt sich der Vermittler zu einer Einigung bereit - mutmaßlich, um negative Öffentlichkeit zu vermeiden. Dass sie einen Teil zurückbekam, lag nicht an staatlichen Strukturen, sondern an Organisationen, Netzwerken, öffentlichem Druck. Oder, wie This Is Lebanon es über ihren Fall hinaus formuliert: Sharon hätte nie darauf angewiesen sein dürfen, dass ein möglicher Social-Media-Post ihre Rechte schützt.

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