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PolitikEuropa

Erdogan will Rivalin hinter Gitter bringen

Daniel Derya Bellut
17. Januar 2021

Die Istanbuler CHP-Vorsitzende Kaftancioglu fügte mit einer legendären Wahlkampagne dem türkischen Präsidenten die empfindlichste Niederlage seiner Karriere zu. Erdogan will nun Rache.

Canan Kaftancioglu am 6. September 2019 vor dem Justizpalast in Istanbul, wo sie zu einer knapp zehnjährigen Haftstrafe verurteilt wurde.
Canan Kaftancioglu im September 2019 vor dem Justizpalast in Istanbul: Sie wurde zu zehn Jahren Haft verurteilt Bild: Getty Images/AFP/B. Kilic

Canan Kaftancioglu ist eine der aufsteigenden Politstars der Türkei - nur wenige Politiker genießen zurzeit eine vergleichbare Popularität wie die ausgebildete Ärztin von der Schwarzmeerküste. Mit ihren linkspolitischen Ansichten stach sie in der sozialdemokratischen CHP immer ein wenig heraus.

Anfang 2018 stieg sie zur Vorsitzenden der Istanbuler CHP auf. Ihren endgültigen Durchbruch erlebte sie ein gutes Jahr später: Sie war die Strippenzieherin einer der erfolgreichsten Wahl-Kampagnen in der Geschichte der Türkei. Bei den Bürgermeisterwahlen im März 2019 leitete Kaftancioglu den Wahlkampf des damals unbekannten Newcomers Ekrem Imamoglu - ein Lokalpolitiker, dem kaum jemand einen Wahlsieg gegen den ehemaligen AKP-Ministerpräsidenten Binali Yildirim zugetraut hätte.

Kommunalwahlen 2019: Der Anfang vom Ende für Erdogan?

Doch durch eine emotionale Wahlkampagne, die auf Versöhnung statt Polarisierung setzte, gewann die CHP die Gunst der Wähler. Auch die Thematisierung von Miss- und Vetternwirtschaft in der Istanbuler Verwaltung, die 25 Jahre lang von Erdogans AKP und ihren islamistischen Vorgängerparteien geführt wurde, stellte sich als gute Strategie heraus - Prunksucht in Zeiten von Währungs- und Wirtschaftskrise kam bei der Istanbuler Bevölkerung nicht gut an. Beim ersten Urnengang ging Imamoglu als knapper Sieger hervor. Präsident Recep Tayyip Erdogan setzte die Wahlkommission unter Druck und erzwang Neuwahlen - jedoch ohne Erfolg. Die CHP konnte ihren Vorsprung sogar noch weiter ausbauen

Bei den Bürgermeisterwahlen leitete Kaftancioglu den Wahlkampf des damals unbekannten Newcomers ImamogluBild: picture-alliance/AA/O. Akkanat

Der Verlust der 16-Millionen-Metropole Istanbul, das wirtschaftliche und gesellschaftliche Zentrum der Türkei, war die bitterste Wahlniederlage in der Karriere des türkischen Präsidenten. Kaftancioglu wiederum wurde durch die Wahl äußerst populär.

"Erdogans Justiz" holt zum Gegenschlag aus

Doch der Höhenflug der 48-Jährigen wird entscheidend gestört - nun ist sie im Visier der türkischen Justiz: Ein paar Monate nach Erdogans Wahlniederlage, im September 2019, wurde sie wegen "Terrorpropaganda, Volksverhetzung, Präsidentenbeleidigung, Beamtenbeleidigung und Verunglimpfung des Staates" von der Großen Strafkammer in Istanbul zu einer knapp zehnjährigen Haftstrafe verurteilt.Die Beweise wirken für Kritiker wie aus den Fingern gesogen: alte Twitter-Posts aus den Jahren 2012 bis 2017. Die CHP-Führung sprach daraufhin von einem Racheakt für das Wahldebakel in Istanbul. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, weil Kaftancioglu Berufung eingelegt hatte.

Der türkische Präsident Erdogan wollte die Niederlage nicht hinnehmen Bild: Emrah Yorulmaz/Anadolu Agency/picture alliance

Jetzt legt die türkische Justiz noch einmal nach. Dieses Mal kommt die Klage von der anatolischen Staatsanwaltschaft in Istanbul. Ausgangspunkt war, dass ein Parteifreund Kaftancioglus, Suat Özcagdas, wegen Persönlichkeitsrechtsverletzungen zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, weil er das Haus des präsidentiellen Medien- und Kommunikationsdirektors Fahrettin Altun im Istanbuler Bezirk Üsküdar fotografiert hatte. Der CHP-Bezirksvorsitzende wollte dokumentieren, dass der Bau von Altuns Haus ohne Baugenehmigung erfolgte. 

Ein Tweet - 10,5 Jahre Haft

Auf Twitter schaltete sich Kaftancioglu ein und stellte sich auf die Seite des CHP-Bezirksvorsitzenden von Üsküdar. "Sie werden bald in ihrer Unmoral und ihren Lügen ertrinken. Özcagdas hat nur seine Pflicht erfüllt, eine Kontrolle durchgeführt und die Anweisungen der Partei befolgt, weil der Bau verboten ist, und er wird es wieder tun. Diejenigen, die etwas zu verbergen haben, machen Panik. Bleibt ruhig, Jungs", schrieb sie am 22. April auf dem Nachrichtendienst Twitter.

Aus ihrer Solidaritätsbekundung wurde auch ihr dann ein Strick gedreht: "Anstiftung zur Straftat" und "Verherrlichung einer Straftat" legt ihr nun die Staatsanwaltschaft zur Last - ihr droht eine Haftstrafe von bis zu 10,5 Jahren.

Ein Reigen von Klagen gegen die Opposition

Dass Vertreter der türkischen Regierung alle rechtlichen Mittel ausschöpfen, um oppositionelle Politiker unter Druck zu setzen, ist keine Seltenheit: Auch CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu geriet zuletzt ins Visier der Justiz. Präsident Erdogan reichte gegen ihn eine Schadensersatzklage in Höhe von umgerechnet 110.000 Euro ein, weil "ungerechte und unbegründete Anschuldigungen gegen den Präsidenten erhoben wurden". Der Grund: Kilicdaroglu adressierte Erdogan in einer Rede als den "sogenannten" Präsidenten.

Demirtas sitzt seit mehr als vier Jahren in UntersuchungshaftBild: Getty Images/AFP/O. Kose

Dass willkürliche Klagen gegen Oppositionspolitiker auch drakonische Folgen haben können, zeigt der Fall Selahattin Demirtas: Ohne Anklageschrift sitzt der ehemalige Vorsitzende der pro-kurdischen HDP seit mehr als vier Jahren in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft verlangt nun in ihrer stark verspäteten Klage "lebenslange Haft unter erschwerten Bedingungen". Ihm wird unter anderem "Zerstörung der Einheit des Staates und Integrität des Landes" im Zusammenhang mit den sogenannten Kobanê-Protesten vorgeworfen, zu denen die HDP 2014 aufgerufen hatte. Sie richteten sich gegen die Belagerung der syrisch-kurdischen Stadt Kobanê durch die Terrormiliz IS. Die Proteste schlugen in Gewalt um, nach offiziellen Angaben wurden 37 Menschen getötet.

Kaftancioglu dreht den Spieß um

Die Istanbuler CHP-Chefin Kaftancioglu scheint von der Drohkulisse jedoch nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Offensichtlich möchte sie nun die Regierung mit ihren eigenen Waffen schlagen: Sie reichte eine Schadensersatzklage gegen Präsident Erdogan und Innenminister Süleyman Soylu ein, weil die beiden AKP-Politiker sie als "militant" verunglimpft hätten.

Vorausgegangen ist, dass Kaftancioglu die Studenten der Bogazici-Universität besuchte, die gegen die Ernennung von Melih Bulu zum Universitätsdirektor demonstrierten. Die kontroverse Personalie steht der AKP nahe und wurde vom Präsidenten persönlich per Dekret ernannt - für viele Studenten war dieser Vorgang undemokratisch. Als Erdogan gefragt wurde, ob auch er die Studenten besuchen wolle, entgegnete der Präsident: "Freunde, warum sollte ich mich mit diesen Studenten treffen? Das sind keine Studenten, das sind Terroristen. Die Istanbuler CHP-Vorsitzende ist dort gewesen; sie ist eine DHKP-C-Kämpferin (Anm. D. Red.: eine linksextreme Gruppierung, die in der Türkei als Terrororganisation gilt)."

Kaftancioglu reagierte auf diese Äußerung postwendend : "Er muss der Öffentlichkeit unverzüglich Beweise vorlegen, um diese lächerliche Anschuldigung zu belegen". Sie erklärt sich die Verunglimpfung des türkischen Präsidenten damit, dass Erdogan wohl immer noch nicht über die Wahlniederlage bei den Kommunalwahlen in Istanbul hinweg sei.